Zweites Capitel. Falsche Bestimmung des Statszwecks.
Meinung durch den berühmten Satz verurtheilt: "Eine Stats- verfassung, welche nur den Vortheil des Regenten bezweckt, ist eine ungesunde Ausartung." Diese Meinung vergiszt, dasz im State ein Volk lebt. Sie übersieht, dasz die Regierten ebenfalls Personen sind, wie die Regenten, dasz die Unter- thanen wesentlich dieselben menschlichen Fähigkeiten, Em- pfindungen, Kräfte haben, wie die Fürsten und dasz es da- her ungereimt ist, nur diese als berechtigte Personen und jene als bloszen Gegenstand ihrer Herrschaft, wie Sachen zu betrachten. Alle Gründe, welche gegen die Sclaverei sprechen, sind auch gegen diese Despotie wirksam.
Die Herrschaft im State ist freilich eine Eigenschaft der Statsgewalt, nicht aber der Zweck des Stats, ein Mittel, den Statszweck zu realisiren, nicht das Ziel des Statslebens. Sie ist mehr noch eine Pflicht gegen das Volk, als ein Ge- nusz des Herrschers.
Um deszwillen bedarf die Herrschaft auch der näheren Begrenzung und der verfassungsmäszigen Bestimmung. Nicht die absolute, sondern die constitutionelle, d. h. relative Statsherrschaft entspricht dem Ideal eines möglichst vollkom- menen Stats. Wenn eine bestimmte Form der Herrschaft, die ursprünglich einen guten Sinn gehabt hatte, mit der Zeit nicht mehr paszt zu den veränderten Zuständen eines Volks, wenn sie schädlich wird für die Vervollkommnung des Volks, dann kann es daher auch nicht mehr die Aufgabe einer ge- sunden Politik sein, die Herrschaft, wie sie von den Vor- fahren ererbt worden, unversehrt und ungeschmälert an die Nachkommen zu hinterlassen. Vielmehr ist dann die politische Aufgabe, die unbrauchbare Form der Herrschaft zu verbessern und die Harmonie mit den übrigen Lebensbedingungen des Volks herzustellen.
2. Die theokratische Statslehre gibt als Statszweck die Verwirklichung des Gottesreichs auf der Erde an. Stahl (Rechtsphilosophie II. 2.) sagt: "Es ruht der Beruf
Zweites Capitel. Falsche Bestimmung des Statszwecks.
Meinung durch den berühmten Satz verurtheilt: „Eine Stats- verfassung, welche nur den Vortheil des Regenten bezweckt, ist eine ungesunde Ausartung.“ Diese Meinung vergiszt, dasz im State ein Volk lebt. Sie übersieht, dasz die Regierten ebenfalls Personen sind, wie die Regenten, dasz die Unter- thanen wesentlich dieselben menschlichen Fähigkeiten, Em- pfindungen, Kräfte haben, wie die Fürsten und dasz es da- her ungereimt ist, nur diese als berechtigte Personen und jene als bloszen Gegenstand ihrer Herrschaft, wie Sachen zu betrachten. Alle Gründe, welche gegen die Sclaverei sprechen, sind auch gegen diese Despotie wirksam.
Die Herrschaft im State ist freilich eine Eigenschaft der Statsgewalt, nicht aber der Zweck des Stats, ein Mittel, den Statszweck zu realisiren, nicht das Ziel des Statslebens. Sie ist mehr noch eine Pflicht gegen das Volk, als ein Ge- nusz des Herrschers.
Um deszwillen bedarf die Herrschaft auch der näheren Begrenzung und der verfassungsmäszigen Bestimmung. Nicht die absolute, sondern die constitutionelle, d. h. relative Statsherrschaft entspricht dem Ideal eines möglichst vollkom- menen Stats. Wenn eine bestimmte Form der Herrschaft, die ursprünglich einen guten Sinn gehabt hatte, mit der Zeit nicht mehr paszt zu den veränderten Zuständen eines Volks, wenn sie schädlich wird für die Vervollkommnung des Volks, dann kann es daher auch nicht mehr die Aufgabe einer ge- sunden Politik sein, die Herrschaft, wie sie von den Vor- fahren ererbt worden, unversehrt und ungeschmälert an die Nachkommen zu hinterlassen. Vielmehr ist dann die politische Aufgabe, die unbrauchbare Form der Herrschaft zu verbessern und die Harmonie mit den übrigen Lebensbedingungen des Volks herzustellen.
2. Die theokratische Statslehre gibt als Statszweck die Verwirklichung des Gottesreichs auf der Erde an. Stahl (Rechtsphilosophie II. 2.) sagt: „Es ruht der Beruf
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Zweites Capitel. Falsche Bestimmung des Statszwecks.
Meinung durch den berühmten Satz verurtheilt: „Eine Stats-
verfassung, welche nur den Vortheil des Regenten bezweckt,
ist eine ungesunde Ausartung.“ Diese Meinung vergiszt, dasz
im State ein Volk lebt. Sie übersieht, dasz die Regierten
ebenfalls Personen sind, wie die Regenten, dasz die Unter-
thanen wesentlich dieselben menschlichen Fähigkeiten, Em-
pfindungen, Kräfte haben, wie die Fürsten und dasz es da-
her ungereimt ist, nur diese als berechtigte Personen und
jene als bloszen Gegenstand ihrer Herrschaft, wie Sachen zu
betrachten. Alle Gründe, welche gegen die Sclaverei sprechen,
sind auch gegen diese Despotie wirksam.
Die Herrschaft im State ist freilich eine Eigenschaft der
Statsgewalt, nicht aber der Zweck des Stats, ein Mittel, den
Statszweck zu realisiren, nicht das Ziel des Statslebens. Sie
ist mehr noch eine Pflicht gegen das Volk, als ein Ge-
nusz des Herrschers.
Um deszwillen bedarf die Herrschaft auch der näheren
Begrenzung und der verfassungsmäszigen Bestimmung. Nicht
die absolute, sondern die constitutionelle, d. h. relative
Statsherrschaft entspricht dem Ideal eines möglichst vollkom-
menen Stats. Wenn eine bestimmte Form der Herrschaft,
die ursprünglich einen guten Sinn gehabt hatte, mit der Zeit
nicht mehr paszt zu den veränderten Zuständen eines Volks,
wenn sie schädlich wird für die Vervollkommnung des Volks,
dann kann es daher auch nicht mehr die Aufgabe einer ge-
sunden Politik sein, die Herrschaft, wie sie von den Vor-
fahren ererbt worden, unversehrt und ungeschmälert an die
Nachkommen zu hinterlassen. Vielmehr ist dann die politische
Aufgabe, die unbrauchbare Form der Herrschaft zu verbessern
und die Harmonie mit den übrigen Lebensbedingungen des
Volks herzustellen.
2. Die theokratische Statslehre gibt als Statszweck die
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/369>, abgerufen am 22.11.2024.
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