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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.

2. Wie ist dieser Eine oberste Statszweck zu bezeichnen?
Manche sagen: die Gerechtigkeit, die Verwirklichung
des Rechts
. Wir halten diese Bestimmung auch dann für
zu enge und für unrichtig, wenn man unter Recht auch das
Statsrecht und das Völkerrecht begreift, und nicht blosz die
Rechtssicherheit der Privaten (vergl. Cap. 3). Das Recht ist
eher noch eine Bedingung als das Ziel der Politik. "Ju-
stitia fundamentum regni." Und das Leben der Völker ist
nicht bloszes Rechtsleben, es ist auch wirthschaftliches Leben,
Culturleben, nationales Machtleben. Die rechtskundigen Rö-
mer haben nie das Jus als obersten Statszweck betrachtet.

Hegel sagt uns, ähnlich wie lange vor ihm Platon, die
"Sittlichkeit" und die Verwirklichung des Sittengesetzes
sei der Statszweck. Aber die beiden entscheidenden Mächte,
welche das sittliche Leben bestimmen und bedingen, der gött-
liche Geist und der individuelle Menschengeist sind auszer-
halb des Statsbereichs. Das Reich der Sittlichkeit ist viel
umfassender als das Reich des Stats. Wenn der Stat dasselbe
beherrschen will, so überschreitet er die Schranken, die ihm
gesetzt sind und wirkt schädlich für die Sittlichkeit.

3. Die Römer haben die öffentliche Wohlfahrt als
die wahre Aufgabe des Stats erklärt. Ihre beiden Begriffe:
Res publica und Salus publica stehen in einem sprach-
lichen und logischen Zusammenhang. Sie verhalten sich wie
Unterlage und Eigenschaft, wie Anlage und Entwicklung.

Es ist diese Bezeichnung des Statszwecks vielfältig misz-
verstanden worden, hauptsächlich, weil man nicht an das Ge-
meinwesen (die res publica), sondern an die Menge der Ein-
zelnen, oder an die Laune der Herrscher gedacht hat. Man
hat damit nur zu oft die despotische Willkür und die Tyran-
nei bald der Fürsten, bald der Volksmehrheiten zu beschö-
nigen gesucht. Die entsetzlichen Erfahrungen, welche die
Welt mit den Gräueln des Pariser Wohlfahrtsausschusses
(Comite du Salut public) in den Neunzigerjahren des vorigen

Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.

2. Wie ist dieser Eine oberste Statszweck zu bezeichnen?
Manche sagen: die Gerechtigkeit, die Verwirklichung
des Rechts
. Wir halten diese Bestimmung auch dann für
zu enge und für unrichtig, wenn man unter Recht auch das
Statsrecht und das Völkerrecht begreift, und nicht blosz die
Rechtssicherheit der Privaten (vergl. Cap. 3). Das Recht ist
eher noch eine Bedingung als das Ziel der Politik. „Ju-
stitia fundamentum regni.“ Und das Leben der Völker ist
nicht bloszes Rechtsleben, es ist auch wirthschaftliches Leben,
Culturleben, nationales Machtleben. Die rechtskundigen Rö-
mer haben nie das Jus als obersten Statszweck betrachtet.

Hegel sagt uns, ähnlich wie lange vor ihm Platon, die
Sittlichkeit“ und die Verwirklichung des Sittengesetzes
sei der Statszweck. Aber die beiden entscheidenden Mächte,
welche das sittliche Leben bestimmen und bedingen, der gött-
liche Geist und der individuelle Menschengeist sind auszer-
halb des Statsbereichs. Das Reich der Sittlichkeit ist viel
umfassender als das Reich des Stats. Wenn der Stat dasselbe
beherrschen will, so überschreitet er die Schranken, die ihm
gesetzt sind und wirkt schädlich für die Sittlichkeit.

3. Die Römer haben die öffentliche Wohlfahrt als
die wahre Aufgabe des Stats erklärt. Ihre beiden Begriffe:
Res publica und Salus publica stehen in einem sprach-
lichen und logischen Zusammenhang. Sie verhalten sich wie
Unterlage und Eigenschaft, wie Anlage und Entwicklung.

Es ist diese Bezeichnung des Statszwecks vielfältig misz-
verstanden worden, hauptsächlich, weil man nicht an das Ge-
meinwesen (die res publica), sondern an die Menge der Ein-
zelnen, oder an die Laune der Herrscher gedacht hat. Man
hat damit nur zu oft die despotische Willkür und die Tyran-
nei bald der Fürsten, bald der Volksmehrheiten zu beschö-
nigen gesucht. Die entsetzlichen Erfahrungen, welche die
Welt mit den Gräueln des Pariser Wohlfahrtsausschusses
(Comité du Salut public) in den Neunzigerjahren des vorigen

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[359/0377] Viertes Capitel. Der wahre Statszweck. 2. Wie ist dieser Eine oberste Statszweck zu bezeichnen? Manche sagen: die Gerechtigkeit, die Verwirklichung des Rechts. Wir halten diese Bestimmung auch dann für zu enge und für unrichtig, wenn man unter Recht auch das Statsrecht und das Völkerrecht begreift, und nicht blosz die Rechtssicherheit der Privaten (vergl. Cap. 3). Das Recht ist eher noch eine Bedingung als das Ziel der Politik. „Ju- stitia fundamentum regni.“ Und das Leben der Völker ist nicht bloszes Rechtsleben, es ist auch wirthschaftliches Leben, Culturleben, nationales Machtleben. Die rechtskundigen Rö- mer haben nie das Jus als obersten Statszweck betrachtet. Hegel sagt uns, ähnlich wie lange vor ihm Platon, die „Sittlichkeit“ und die Verwirklichung des Sittengesetzes sei der Statszweck. Aber die beiden entscheidenden Mächte, welche das sittliche Leben bestimmen und bedingen, der gött- liche Geist und der individuelle Menschengeist sind auszer- halb des Statsbereichs. Das Reich der Sittlichkeit ist viel umfassender als das Reich des Stats. Wenn der Stat dasselbe beherrschen will, so überschreitet er die Schranken, die ihm gesetzt sind und wirkt schädlich für die Sittlichkeit. 3. Die Römer haben die öffentliche Wohlfahrt als die wahre Aufgabe des Stats erklärt. Ihre beiden Begriffe: Res publica und Salus publica stehen in einem sprach- lichen und logischen Zusammenhang. Sie verhalten sich wie Unterlage und Eigenschaft, wie Anlage und Entwicklung. Es ist diese Bezeichnung des Statszwecks vielfältig misz- verstanden worden, hauptsächlich, weil man nicht an das Ge- meinwesen (die res publica), sondern an die Menge der Ein- zelnen, oder an die Laune der Herrscher gedacht hat. Man hat damit nur zu oft die despotische Willkür und die Tyran- nei bald der Fürsten, bald der Volksmehrheiten zu beschö- nigen gesucht. Die entsetzlichen Erfahrungen, welche die Welt mit den Gräueln des Pariser Wohlfahrtsausschusses (Comité du Salut public) in den Neunzigerjahren des vorigen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/377>, abgerufen am 22.11.2024.