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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
Weltmacht, aber es gibt keine Weltmacht, die nicht zugleich
Groszmacht ist. Die Weltmacht musz Seemacht sein, weil
der Einflusz auf die Geschicke der Welt ohne die Verbindung
zur See nicht möglich ist. Die Groszmacht kann auch blosze
Landmacht sein. So war das Königreich Preuszen vor der
Gründung des deutschen Reiches eine Groszmacht, aber keine
Weltmacht. Ebenso konnte und kann noch Oesterreich-
Ungarn eher als Groszmacht, nicht als Weltmacht gelten. Auch
die Groszmacht übt eine weitwirkende Politik aus über die
Grenzen ihres Landes hinaus. Auch die Groszmacht darf
nicht übersehen werden, wenn die Verhältnisse des Welttheils,
in der sie ist, erhebliche Aenderungen erfahren. Man kann
ihre Stimme nicht ohne Gefahr miszachten.

Wenn aber, sei es eine Groszmacht oder eine Weltmacht,
ihre Uebermacht zur Unterdrückung anderer berechtigter
Staten miszbraucht, dann ist der Widerstand der übrigen
Mächte berechtigt. Auch ein Genie, wie der Kaiser Napo-
leon
I. vermochte doch nicht die grosze Macht des franzö-
sischen Volks bis zur Herrschaft über Europa zu steigern,
und ist in Folge dieses verfehlten Unternehmens gestürzt
worden. Ebenso war Russland nicht stark genug, die Tür-
kei unter seine Oberherrlichkeit zu bringen. Oesterreichs
Herrschaft über Italien war nicht haltbar. Die englische
Seeherrschaft muszte sich doch schlieszlich die Concurrenz
der andern Nationen gefallen lassen.

c) Mittelmächte und Friedensmächte (neutrale
Staten), die nicht stark genug sind, für sich allein grosze
äuszere Politik zu treiben, deren Leben vorzugsweise nach
Innen
gewendet ist. Die Politik dieser Staten hat einen
bescheidenen Charakter, aber sie ist in hohem Grade nütz-
lich zunächst für die Bewohner dieser Staten, dann aber
auch, indem sie die Strömungen der groszen Politik einiger-
maszen begrenzt und deren Gefahren ermäszigt.

d) Die eigentlichen Kleinstaten haben in unserer Zeit,

Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
Weltmacht, aber es gibt keine Weltmacht, die nicht zugleich
Groszmacht ist. Die Weltmacht musz Seemacht sein, weil
der Einflusz auf die Geschicke der Welt ohne die Verbindung
zur See nicht möglich ist. Die Groszmacht kann auch blosze
Landmacht sein. So war das Königreich Preuszen vor der
Gründung des deutschen Reiches eine Groszmacht, aber keine
Weltmacht. Ebenso konnte und kann noch Oesterreich-
Ungarn eher als Groszmacht, nicht als Weltmacht gelten. Auch
die Groszmacht übt eine weitwirkende Politik aus über die
Grenzen ihres Landes hinaus. Auch die Groszmacht darf
nicht übersehen werden, wenn die Verhältnisse des Welttheils,
in der sie ist, erhebliche Aenderungen erfahren. Man kann
ihre Stimme nicht ohne Gefahr miszachten.

Wenn aber, sei es eine Groszmacht oder eine Weltmacht,
ihre Uebermacht zur Unterdrückung anderer berechtigter
Staten miszbraucht, dann ist der Widerstand der übrigen
Mächte berechtigt. Auch ein Genie, wie der Kaiser Napo-
leon
I. vermochte doch nicht die grosze Macht des franzö-
sischen Volks bis zur Herrschaft über Europa zu steigern,
und ist in Folge dieses verfehlten Unternehmens gestürzt
worden. Ebenso war Russland nicht stark genug, die Tür-
kei unter seine Oberherrlichkeit zu bringen. Oesterreichs
Herrschaft über Italien war nicht haltbar. Die englische
Seeherrschaft muszte sich doch schlieszlich die Concurrenz
der andern Nationen gefallen lassen.

c) Mittelmächte und Friedensmächte (neutrale
Staten), die nicht stark genug sind, für sich allein grosze
äuszere Politik zu treiben, deren Leben vorzugsweise nach
Innen
gewendet ist. Die Politik dieser Staten hat einen
bescheidenen Charakter, aber sie ist in hohem Grade nütz-
lich zunächst für die Bewohner dieser Staten, dann aber
auch, indem sie die Strömungen der groszen Politik einiger-
maszen begrenzt und deren Gefahren ermäszigt.

d) Die eigentlichen Kleinstaten haben in unserer Zeit,

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[363/0381] Viertes Capitel. Der wahre Statszweck. Weltmacht, aber es gibt keine Weltmacht, die nicht zugleich Groszmacht ist. Die Weltmacht musz Seemacht sein, weil der Einflusz auf die Geschicke der Welt ohne die Verbindung zur See nicht möglich ist. Die Groszmacht kann auch blosze Landmacht sein. So war das Königreich Preuszen vor der Gründung des deutschen Reiches eine Groszmacht, aber keine Weltmacht. Ebenso konnte und kann noch Oesterreich- Ungarn eher als Groszmacht, nicht als Weltmacht gelten. Auch die Groszmacht übt eine weitwirkende Politik aus über die Grenzen ihres Landes hinaus. Auch die Groszmacht darf nicht übersehen werden, wenn die Verhältnisse des Welttheils, in der sie ist, erhebliche Aenderungen erfahren. Man kann ihre Stimme nicht ohne Gefahr miszachten. Wenn aber, sei es eine Groszmacht oder eine Weltmacht, ihre Uebermacht zur Unterdrückung anderer berechtigter Staten miszbraucht, dann ist der Widerstand der übrigen Mächte berechtigt. Auch ein Genie, wie der Kaiser Napo- leon I. vermochte doch nicht die grosze Macht des franzö- sischen Volks bis zur Herrschaft über Europa zu steigern, und ist in Folge dieses verfehlten Unternehmens gestürzt worden. Ebenso war Russland nicht stark genug, die Tür- kei unter seine Oberherrlichkeit zu bringen. Oesterreichs Herrschaft über Italien war nicht haltbar. Die englische Seeherrschaft muszte sich doch schlieszlich die Concurrenz der andern Nationen gefallen lassen. c) Mittelmächte und Friedensmächte (neutrale Staten), die nicht stark genug sind, für sich allein grosze äuszere Politik zu treiben, deren Leben vorzugsweise nach Innen gewendet ist. Die Politik dieser Staten hat einen bescheidenen Charakter, aber sie ist in hohem Grade nütz- lich zunächst für die Bewohner dieser Staten, dann aber auch, indem sie die Strömungen der groszen Politik einiger- maszen begrenzt und deren Gefahren ermäszigt. d) Die eigentlichen Kleinstaten haben in unserer Zeit,

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/381>, abgerufen am 22.11.2024.