stigung derselben dahin, dasz die andern Aufgaben des Stats vernachlässigt werden und alle andern Interessen Schaden leiden. Ueberdem kommt der politische Geist solcher Völker nicht zu wahrer Geltung, er wird verdorben durch die Selbst- sucht und die engherzige Gesinnung der Privatinteressen. Das Volk des Hirtenstates wird arm und unwissend bleiben; in dem Ackerbaustate wird es der höheren Bildung gegenüber misztrauisch und ungünstig sein; der naturwüchsigen Urkraft wird sich die rohe Sitte beigesellen und die höhere Cultur wird nicht gedeihen. Dem Industriestate sind die Gefahren der Arbeiterunruhen und der Abschlieszung fremder Fabrikate eigen. Der Handelsstat wird leicht durch den Krämergeist verdorben und auf Abwege verleitet.
3) Es können ferner die Culturinteressen das Volks- leben vorzüglich bestimmen. Dann entstehen Culturstaten. Dem Militärstate Sparta trat so zur Zeit des Perikles der Culturstat Athen gegenüber, und hinterliesz der Nachwelt un- sterbliche Zeugnisse der Kunstliebe und der Befähigung der Athener für die Wissenschaft. Auch Florenz, Venedig, Ant- werpen hatten Perioden, in denen die Culturinteressen alle andern überragten. Heute noch ist das chinesische Reich ein solcher, freilich mehr traditioneller als fortschreitender Cultur- stat und ist es der Ruhm von Zürich und Genf, die öffentlichen Schulen mit Vorliebe zu pflegen.
So edel diese Culturzwecke sind, so ist eine übertriebene Förderung derselben zum Nachtheil der übrigen Volkskräfte doch von einer gesunden Politik zu vermeiden.
4) Endlich zeigt sich eine besondere Zweckbestimmung, die mehr noch als die bisherigen im Centrum des allgemeinen Zweckbegriffs des States liegt. Wird die Ausbildung der recht- lichen Garantien für die Volksfreiheit und die Frei- heit der Privatpersonen als die Hauptaufgabe des States angesehen, so bilden sich freie Rechtsstaten aus, wie vor- züglich die nordamerikanischen und die schweizerischen Cantone.
Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
stigung derselben dahin, dasz die andern Aufgaben des Stats vernachlässigt werden und alle andern Interessen Schaden leiden. Ueberdem kommt der politische Geist solcher Völker nicht zu wahrer Geltung, er wird verdorben durch die Selbst- sucht und die engherzige Gesinnung der Privatinteressen. Das Volk des Hirtenstates wird arm und unwissend bleiben; in dem Ackerbaustate wird es der höheren Bildung gegenüber misztrauisch und ungünstig sein; der naturwüchsigen Urkraft wird sich die rohe Sitte beigesellen und die höhere Cultur wird nicht gedeihen. Dem Industriestate sind die Gefahren der Arbeiterunruhen und der Abschlieszung fremder Fabrikate eigen. Der Handelsstat wird leicht durch den Krämergeist verdorben und auf Abwege verleitet.
3) Es können ferner die Culturinteressen das Volks- leben vorzüglich bestimmen. Dann entstehen Culturstaten. Dem Militärstate Sparta trat so zur Zeit des Perikles der Culturstat Athen gegenüber, und hinterliesz der Nachwelt un- sterbliche Zeugnisse der Kunstliebe und der Befähigung der Athener für die Wissenschaft. Auch Florenz, Venedig, Ant- werpen hatten Perioden, in denen die Culturinteressen alle andern überragten. Heute noch ist das chinesische Reich ein solcher, freilich mehr traditioneller als fortschreitender Cultur- stat und ist es der Ruhm von Zürich und Genf, die öffentlichen Schulen mit Vorliebe zu pflegen.
So edel diese Culturzwecke sind, so ist eine übertriebene Förderung derselben zum Nachtheil der übrigen Volkskräfte doch von einer gesunden Politik zu vermeiden.
4) Endlich zeigt sich eine besondere Zweckbestimmung, die mehr noch als die bisherigen im Centrum des allgemeinen Zweckbegriffs des States liegt. Wird die Ausbildung der recht- lichen Garantien für die Volksfreiheit und die Frei- heit der Privatpersonen als die Hauptaufgabe des States angesehen, so bilden sich freie Rechtsstaten aus, wie vor- züglich die nordamerikanischen und die schweizerischen Cantone.
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Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
stigung derselben dahin, dasz die andern Aufgaben des Stats
vernachlässigt werden und alle andern Interessen Schaden
leiden. Ueberdem kommt der politische Geist solcher Völker
nicht zu wahrer Geltung, er wird verdorben durch die Selbst-
sucht und die engherzige Gesinnung der Privatinteressen.
Das Volk des Hirtenstates wird arm und unwissend bleiben;
in dem Ackerbaustate wird es der höheren Bildung gegenüber
misztrauisch und ungünstig sein; der naturwüchsigen Urkraft
wird sich die rohe Sitte beigesellen und die höhere Cultur
wird nicht gedeihen. Dem Industriestate sind die Gefahren
der Arbeiterunruhen und der Abschlieszung fremder Fabrikate
eigen. Der Handelsstat wird leicht durch den Krämergeist
verdorben und auf Abwege verleitet.
3) Es können ferner die Culturinteressen das Volks-
leben vorzüglich bestimmen. Dann entstehen Culturstaten.
Dem Militärstate Sparta trat so zur Zeit des Perikles der
Culturstat Athen gegenüber, und hinterliesz der Nachwelt un-
sterbliche Zeugnisse der Kunstliebe und der Befähigung der
Athener für die Wissenschaft. Auch Florenz, Venedig, Ant-
werpen hatten Perioden, in denen die Culturinteressen alle
andern überragten. Heute noch ist das chinesische Reich ein
solcher, freilich mehr traditioneller als fortschreitender Cultur-
stat und ist es der Ruhm von Zürich und Genf, die öffentlichen
Schulen mit Vorliebe zu pflegen.
So edel diese Culturzwecke sind, so ist eine übertriebene
Förderung derselben zum Nachtheil der übrigen Volkskräfte
doch von einer gesunden Politik zu vermeiden.
4) Endlich zeigt sich eine besondere Zweckbestimmung,
die mehr noch als die bisherigen im Centrum des allgemeinen
Zweckbegriffs des States liegt. Wird die Ausbildung der recht-
lichen Garantien für die Volksfreiheit und die Frei-
heit der Privatpersonen als die Hauptaufgabe des States
angesehen, so bilden sich freie Rechtsstaten aus, wie vor-
züglich die nordamerikanischen und die schweizerischen Cantone.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/383>, abgerufen am 22.11.2024.
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