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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
Muth verleihen, er kann Blinde nicht sehend machen. Die
Liebe in den Herzen erglüht ohne sein Zuthun und er kann
dem Gedankengang des Forschers nicht folgen, noch die über-
lieferten Irrthümer widerlegen. Sobald also das individuelle
und voraus das Geistesleben der Individuen in Frage ist,
wird der Stat auf Schranken seiner Einsicht und seiner Macht
stoszen, die er nicht überschreiten darf.

2) Der Stat ruht ganz auf der gemeinsamen Natur
der Menschen und voraus des Volks. Deszhalb kann er auch
nur insofern über das Privatleben Macht üben, als dasselbe
durch die gemeinsame Natur Aller bedingt und durch die ge-
meinsamen Bedürfnisse beschränkt wird, nicht aber in seinem
eigentlich individuellen Wesen. So kann der Stat z. B. die
Herrschaft eines Individuums über eine körperliche Sache,
die wir Eigenthum nennen, für Alle gleichmäszig schützen;
aber musz es der freien Erfüllung individueller Eigenart an-
heim geben, wie dieses Eigenthum im Einzelnen ausgeübt
wird. Das Eigenthum, welches Paganini an seiner Geige,
oder Liszt an seinem Flügel hatte, oder Kaulbach an seinem
Kreidegriffel, hat einen völlig anderen Sinn, als das Eigen-
thum eines unkünstlerischen Privaten an denselben Sachen.
Um diesen feineren Gehalt der Herrschaft kann sich der Stat
nicht kümmern, eben weil derselbe nur individuell, nicht ge-
mein ist. Ebenso kann der Stat wohl die Bedingungen der
Eheschlieszung und die Rechte der Ehegatten in ihren allge-
meinen groben Zügen festsetzen. Er musz es, weil darauf
hinwieder die Sicherheit der Familien und die sittliche Ge-
sundheit der Nation beruht. Aber die Art, wie die Ehe in-
dividuell vollzogen wird, die feinere individuelle Gestalt des
Familienlebens ist seiner Herrschaft entrückt. Wilhelm von
Humboldt hatte sich darin versehen, dasz er das Institut der
Ehe selber der rechtlichen Ordnung entziehen und ganz der
Privatfreiheit überlassen wollte. Das kanonische Recht hat
den entgegengesetzten Fehler begangen, indem es Dinge

Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
Muth verleihen, er kann Blinde nicht sehend machen. Die
Liebe in den Herzen erglüht ohne sein Zuthun und er kann
dem Gedankengang des Forschers nicht folgen, noch die über-
lieferten Irrthümer widerlegen. Sobald also das individuelle
und voraus das Geistesleben der Individuen in Frage ist,
wird der Stat auf Schranken seiner Einsicht und seiner Macht
stoszen, die er nicht überschreiten darf.

2) Der Stat ruht ganz auf der gemeinsamen Natur
der Menschen und voraus des Volks. Deszhalb kann er auch
nur insofern über das Privatleben Macht üben, als dasselbe
durch die gemeinsame Natur Aller bedingt und durch die ge-
meinsamen Bedürfnisse beschränkt wird, nicht aber in seinem
eigentlich individuellen Wesen. So kann der Stat z. B. die
Herrschaft eines Individuums über eine körperliche Sache,
die wir Eigenthum nennen, für Alle gleichmäszig schützen;
aber musz es der freien Erfüllung individueller Eigenart an-
heim geben, wie dieses Eigenthum im Einzelnen ausgeübt
wird. Das Eigenthum, welches Paganini an seiner Geige,
oder Liszt an seinem Flügel hatte, oder Kaulbach an seinem
Kreidegriffel, hat einen völlig anderen Sinn, als das Eigen-
thum eines unkünstlerischen Privaten an denselben Sachen.
Um diesen feineren Gehalt der Herrschaft kann sich der Stat
nicht kümmern, eben weil derselbe nur individuell, nicht ge-
mein ist. Ebenso kann der Stat wohl die Bedingungen der
Eheschlieszung und die Rechte der Ehegatten in ihren allge-
meinen groben Zügen festsetzen. Er musz es, weil darauf
hinwieder die Sicherheit der Familien und die sittliche Ge-
sundheit der Nation beruht. Aber die Art, wie die Ehe in-
dividuell vollzogen wird, die feinere individuelle Gestalt des
Familienlebens ist seiner Herrschaft entrückt. Wilhelm von
Humboldt hatte sich darin versehen, dasz er das Institut der
Ehe selber der rechtlichen Ordnung entziehen und ganz der
Privatfreiheit überlassen wollte. Das kanonische Recht hat
den entgegengesetzten Fehler begangen, indem es Dinge

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[367/0385] Viertes Capitel. Der wahre Statszweck. Muth verleihen, er kann Blinde nicht sehend machen. Die Liebe in den Herzen erglüht ohne sein Zuthun und er kann dem Gedankengang des Forschers nicht folgen, noch die über- lieferten Irrthümer widerlegen. Sobald also das individuelle und voraus das Geistesleben der Individuen in Frage ist, wird der Stat auf Schranken seiner Einsicht und seiner Macht stoszen, die er nicht überschreiten darf. 2) Der Stat ruht ganz auf der gemeinsamen Natur der Menschen und voraus des Volks. Deszhalb kann er auch nur insofern über das Privatleben Macht üben, als dasselbe durch die gemeinsame Natur Aller bedingt und durch die ge- meinsamen Bedürfnisse beschränkt wird, nicht aber in seinem eigentlich individuellen Wesen. So kann der Stat z. B. die Herrschaft eines Individuums über eine körperliche Sache, die wir Eigenthum nennen, für Alle gleichmäszig schützen; aber musz es der freien Erfüllung individueller Eigenart an- heim geben, wie dieses Eigenthum im Einzelnen ausgeübt wird. Das Eigenthum, welches Paganini an seiner Geige, oder Liszt an seinem Flügel hatte, oder Kaulbach an seinem Kreidegriffel, hat einen völlig anderen Sinn, als das Eigen- thum eines unkünstlerischen Privaten an denselben Sachen. Um diesen feineren Gehalt der Herrschaft kann sich der Stat nicht kümmern, eben weil derselbe nur individuell, nicht ge- mein ist. Ebenso kann der Stat wohl die Bedingungen der Eheschlieszung und die Rechte der Ehegatten in ihren allge- meinen groben Zügen festsetzen. Er musz es, weil darauf hinwieder die Sicherheit der Familien und die sittliche Ge- sundheit der Nation beruht. Aber die Art, wie die Ehe in- dividuell vollzogen wird, die feinere individuelle Gestalt des Familienlebens ist seiner Herrschaft entrückt. Wilhelm von Humboldt hatte sich darin versehen, dasz er das Institut der Ehe selber der rechtlichen Ordnung entziehen und ganz der Privatfreiheit überlassen wollte. Das kanonische Recht hat den entgegengesetzten Fehler begangen, indem es Dinge

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/385>, abgerufen am 22.11.2024.