1. Montesquieu hat sich im Wesentlichen an die Ein- theilung des Aristoteles gehalten, aber insofern einen wissen- schaftlichen Fortschritt gemacht, als er für die drei Formen der Monarchie, Aristokratie und Demokratie -- abgesehen von der Zahl der Regierenden -- drei geistige oder moralische Lebensprincipien aufsuchte. Ob er sie gefunden -- die Tugend erhob er zum Princip der Demokratie, die Mäszigung zu dem der Aristokratie, die Ehre zu dem der Monarchie, und die Furcht zu dem der Despotie -- ist freilich eine andere Frage. Auszerdem aber fügte er den drei Arten als vierte die Despotie hinzu, die Aristoteles besser als Ausartung be- zeichnet und den richtigen Statsformen entgegengesetzt hatte.
2. Sehr beachtenswerth ist der Versuch Schleier- machers, 1 die mancherlei Staten zu ordnen, indem er ver- schiedene Entwicklungsstufen des statlichen Bewusztseins unter- schied. Der Stat entsteht, wenn in der Völkerschaft das Bewusztsein erwacht des nothwendigen "Gegensatzes von Re- gierung und Unterthan." Die erste Stufe ist die, wo dieses Bewusztsein in einer kleinen Völkerschaft hervortritt, gewöhn- lich so, dasz "die ganze zum Statswesen reife Masse gleich- förmig" ergriffen wird. Dann wird jener Gegensatz in Allen sich entwickeln. Sie werden sich vereinigen, um die Obrig- keit darzustellen und sich wieder trennen, um sich als Unter- thanen zu zeigen. Das ist die Demokratie, in welcher der Gegensatz zwischen Gemeingeist und Privatinteresse nur schwach auseinander tritt. Oder es kann die zum Statwerden reife Masse von dem statbildenden Anstosz ungleichförmig berührt werden, das politische Bewusztsein kann sich zuerst in einem
1Schleiermacher: Ueber die Begriffe der verschiedenen Stats- formen, in den Abhandlungen der Berliner Akademie v. 1814.
Sechstes Buch. Die Statsformen.
Drittes Capitel. Neuere Fortbildung der Theorie.
1. Montesquieu hat sich im Wesentlichen an die Ein- theilung des Aristoteles gehalten, aber insofern einen wissen- schaftlichen Fortschritt gemacht, als er für die drei Formen der Monarchie, Aristokratie und Demokratie — abgesehen von der Zahl der Regierenden — drei geistige oder moralische Lebensprincipien aufsuchte. Ob er sie gefunden — die Tugend erhob er zum Princip der Demokratie, die Mäszigung zu dem der Aristokratie, die Ehre zu dem der Monarchie, und die Furcht zu dem der Despotie — ist freilich eine andere Frage. Auszerdem aber fügte er den drei Arten als vierte die Despotie hinzu, die Aristoteles besser als Ausartung be- zeichnet und den richtigen Statsformen entgegengesetzt hatte.
2. Sehr beachtenswerth ist der Versuch Schleier- machers, 1 die mancherlei Staten zu ordnen, indem er ver- schiedene Entwicklungsstufen des statlichen Bewusztseins unter- schied. Der Stat entsteht, wenn in der Völkerschaft das Bewusztsein erwacht des nothwendigen „Gegensatzes von Re- gierung und Unterthan.“ Die erste Stufe ist die, wo dieses Bewusztsein in einer kleinen Völkerschaft hervortritt, gewöhn- lich so, dasz „die ganze zum Statswesen reife Masse gleich- förmig“ ergriffen wird. Dann wird jener Gegensatz in Allen sich entwickeln. Sie werden sich vereinigen, um die Obrig- keit darzustellen und sich wieder trennen, um sich als Unter- thanen zu zeigen. Das ist die Demokratie, in welcher der Gegensatz zwischen Gemeingeist und Privatinteresse nur schwach auseinander tritt. Oder es kann die zum Statwerden reife Masse von dem statbildenden Anstosz ungleichförmig berührt werden, das politische Bewusztsein kann sich zuerst in einem
1Schleiermacher: Ueber die Begriffe der verschiedenen Stats- formen, in den Abhandlungen der Berliner Akademie v. 1814.
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Sechstes Buch. Die Statsformen.
Drittes Capitel.
Neuere Fortbildung der Theorie.
1. Montesquieu hat sich im Wesentlichen an die Ein-
theilung des Aristoteles gehalten, aber insofern einen wissen-
schaftlichen Fortschritt gemacht, als er für die drei Formen
der Monarchie, Aristokratie und Demokratie — abgesehen von
der Zahl der Regierenden — drei geistige oder moralische
Lebensprincipien aufsuchte. Ob er sie gefunden — die Tugend
erhob er zum Princip der Demokratie, die Mäszigung zu
dem der Aristokratie, die Ehre zu dem der Monarchie, und
die Furcht zu dem der Despotie — ist freilich eine andere
Frage. Auszerdem aber fügte er den drei Arten als vierte
die Despotie hinzu, die Aristoteles besser als Ausartung be-
zeichnet und den richtigen Statsformen entgegengesetzt hatte.
2. Sehr beachtenswerth ist der Versuch Schleier-
machers, 1 die mancherlei Staten zu ordnen, indem er ver-
schiedene Entwicklungsstufen des statlichen Bewusztseins unter-
schied. Der Stat entsteht, wenn in der Völkerschaft das
Bewusztsein erwacht des nothwendigen „Gegensatzes von Re-
gierung und Unterthan.“ Die erste Stufe ist die, wo dieses
Bewusztsein in einer kleinen Völkerschaft hervortritt, gewöhn-
lich so, dasz „die ganze zum Statswesen reife Masse gleich-
förmig“ ergriffen wird. Dann wird jener Gegensatz in Allen
sich entwickeln. Sie werden sich vereinigen, um die Obrig-
keit darzustellen und sich wieder trennen, um sich als Unter-
thanen zu zeigen. Das ist die Demokratie, in welcher der
Gegensatz zwischen Gemeingeist und Privatinteresse nur schwach
auseinander tritt. Oder es kann die zum Statwerden reife
Masse von dem statbildenden Anstosz ungleichförmig berührt
werden, das politische Bewusztsein kann sich zuerst in einem
1 Schleiermacher: Ueber die Begriffe der verschiedenen Stats-
formen, in den Abhandlungen der Berliner Akademie v. 1814.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/394>, abgerufen am 22.11.2024.
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