nicht immer ebenso regelmäszig. Die Einwirkungen der menschlichen Freiheit oder äuszerer Schicksale bringen öfter bedeutende Abweichungen hervor, und unterbrechen bald oder fördern plötzlich die normale Stufenfolge oder wandeln sie zuweilen um, je nachdem grosze und gewaltige Männer oder wilde Leidenschaften auch des Volkes in dieselben eingreifen. Diese Abweichungen sind zwar weder so zahlreich noch ge- wöhnlich so grosz, dasz die Regel selbst um derselben willen bedeutungslos würde. Im Gegentheil sie sind viel seltener, und meistens auch geringfügiger, als die wähnen, welche sich in ihren Meinungen von den unmittelbaren Eindrücken der jeweiligen Gegenwart bestimmen lassen. Aber sie sind doch wichtig genug, um den Beweis zu führen, dasz der Gedanke einer bloszen Naturwüchsigkeit des States einseitig und unbefriedigend sei, und um der freien individuellen That auch in dieser Hinsicht ihr Recht widerfahren zu lassen.
6. Indem die Geschichte uns Aufschlusz gibt über die organische Natur des Staates, läszt sie uns zugleich erkennen, dasz der Stat nicht mit den niedern Organismen der Pflanzen und der Thiere auf Einer Stufe stehe, sondern von höherer Art sei. Sie stellt ihn als einen sittlich-geistigen Or- ganismus dar, als einen groszen Körper, der fähig ist die Gefühle und Gedanken der Völker in sich aufzunehmen und als Gesetz auszusprechen, als That zu verwirklichen. Sie berichtet uns von moralischen Eigenschaften, von dem Charakter der einzelnen Staten. Sie schreibt dem State eine Persönlichkeit zu, die mit Geist und Körper begabt ihren eigenen Willen hat und kundgibt.
Der Ruhm und die Ehre des States haben von jeher auch das Herz seiner Söhne gehoben und zu Opfern begeistert. Für die Freiheit und Selbständigkeit, für das Recht des States haben in allen Zeiten und unter allen Völkern je die Edelsten und Besten ihr Gut und Blut eingesetzt. Das Ansehen und die Macht des States zu erweitern, die Wohlfahrt und das
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
nicht immer ebenso regelmäszig. Die Einwirkungen der menschlichen Freiheit oder äuszerer Schicksale bringen öfter bedeutende Abweichungen hervor, und unterbrechen bald oder fördern plötzlich die normale Stufenfolge oder wandeln sie zuweilen um, je nachdem grosze und gewaltige Männer oder wilde Leidenschaften auch des Volkes in dieselben eingreifen. Diese Abweichungen sind zwar weder so zahlreich noch ge- wöhnlich so grosz, dasz die Regel selbst um derselben willen bedeutungslos würde. Im Gegentheil sie sind viel seltener, und meistens auch geringfügiger, als die wähnen, welche sich in ihren Meinungen von den unmittelbaren Eindrücken der jeweiligen Gegenwart bestimmen lassen. Aber sie sind doch wichtig genug, um den Beweis zu führen, dasz der Gedanke einer bloszen Naturwüchsigkeit des States einseitig und unbefriedigend sei, und um der freien individuellen That auch in dieser Hinsicht ihr Recht widerfahren zu lassen.
6. Indem die Geschichte uns Aufschlusz gibt über die organische Natur des Staates, läszt sie uns zugleich erkennen, dasz der Stat nicht mit den niedern Organismen der Pflanzen und der Thiere auf Einer Stufe stehe, sondern von höherer Art sei. Sie stellt ihn als einen sittlich-geistigen Or- ganismus dar, als einen groszen Körper, der fähig ist die Gefühle und Gedanken der Völker in sich aufzunehmen und als Gesetz auszusprechen, als That zu verwirklichen. Sie berichtet uns von moralischen Eigenschaften, von dem Charakter der einzelnen Staten. Sie schreibt dem State eine Persönlichkeit zu, die mit Geist und Körper begabt ihren eigenen Willen hat und kundgibt.
Der Ruhm und die Ehre des States haben von jeher auch das Herz seiner Söhne gehoben und zu Opfern begeistert. Für die Freiheit und Selbständigkeit, für das Recht des States haben in allen Zeiten und unter allen Völkern je die Edelsten und Besten ihr Gut und Blut eingesetzt. Das Ansehen und die Macht des States zu erweitern, die Wohlfahrt und das
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[22/0040]
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
nicht immer ebenso regelmäszig. Die Einwirkungen der
menschlichen Freiheit oder äuszerer Schicksale bringen öfter
bedeutende Abweichungen hervor, und unterbrechen bald oder
fördern plötzlich die normale Stufenfolge oder wandeln sie
zuweilen um, je nachdem grosze und gewaltige Männer oder
wilde Leidenschaften auch des Volkes in dieselben eingreifen.
Diese Abweichungen sind zwar weder so zahlreich noch ge-
wöhnlich so grosz, dasz die Regel selbst um derselben willen
bedeutungslos würde. Im Gegentheil sie sind viel seltener,
und meistens auch geringfügiger, als die wähnen, welche sich
in ihren Meinungen von den unmittelbaren Eindrücken der
jeweiligen Gegenwart bestimmen lassen. Aber sie sind doch
wichtig genug, um den Beweis zu führen, dasz der Gedanke
einer bloszen Naturwüchsigkeit des States einseitig
und unbefriedigend sei, und um der freien individuellen
That auch in dieser Hinsicht ihr Recht widerfahren zu lassen.
6. Indem die Geschichte uns Aufschlusz gibt über die
organische Natur des Staates, läszt sie uns zugleich erkennen,
dasz der Stat nicht mit den niedern Organismen der Pflanzen
und der Thiere auf Einer Stufe stehe, sondern von höherer
Art sei. Sie stellt ihn als einen sittlich-geistigen Or-
ganismus dar, als einen groszen Körper, der fähig ist die
Gefühle und Gedanken der Völker in sich aufzunehmen und
als Gesetz auszusprechen, als That zu verwirklichen. Sie
berichtet uns von moralischen Eigenschaften, von dem
Charakter der einzelnen Staten. Sie schreibt dem State
eine Persönlichkeit zu, die mit Geist und Körper begabt
ihren eigenen Willen hat und kundgibt.
Der Ruhm und die Ehre des States haben von jeher auch
das Herz seiner Söhne gehoben und zu Opfern begeistert. Für
die Freiheit und Selbständigkeit, für das Recht des States
haben in allen Zeiten und unter allen Völkern je die Edelsten
und Besten ihr Gut und Blut eingesetzt. Das Ansehen und
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/40>, abgerufen am 28.01.2025.
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