Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. allen Völkern Frieden und Recht gewähren. Der mittelalter-liche römische Kaiser galt nicht als absoluter Herr über alle Völker, sondern als gerechter Schirmer ihres Rechts und ihrer Freiheit. Die Kaiseridee, für welche sich ein Statsmann wie Friedrich II. 2 und ein Denker wie Dante 3 begeistert hatte, war so gereinigt. Das mittelalterliche Reich umfaszte eine grosze Anzahl wesentlich selbständiger Staten, welche zu einer Gesammtordnung zwar verbunden und formell dem Kaiser untergeordnet, aber in allen wesentlichen Be- ziehungen unabhängig waren und für sich lebten nach eigenem Willen. Die Mannichfaltigkeit auch des Volks- und Stammes- lebens wurde im Mittelalter mit Vorliebe geschützt und ge- pflegt. Aber was an sich ein Fortschritt war in der Entwick- lung des Weltstates, führte, weil zu einseitig verfolgt, zu dessen Auflösung. Der Trieb zur Sonderung wurde stärker als der Drang nach Einheit. Die Spaltung der Nationalitäten, der Gegensatz der Sprachen, hat Frankreich und Deutschland getrennt, und die fränkische Weltmonarchie in zwei Theile zerrissen. Der Erhebung der Fürsten und Landesherrn ver- mochte das karg ausgestattete deutsche König- und römische Kaiserthum nicht zu begegnen. Die deutsche Centralinstitution hatte keine centrale Unterlage, daher erhielt die Peripherie die Oberhand, und das Reich ging aus den Fugen. Wieder sind die Versuche verunglückt, aber wieder haben sie den nachfolgenden Geschlechtern beachtenswerthe Lehren hinter- lassen. In unserem Jahrhundert hat der Kaiser Napoleon I. 2 Friderici Constit. Regni Siculi I. 30.: "Oportet Caesarem fore justitiae patrem et filium, dominum et ministrum; patrem et dominum in edendo justitiam et editam conservando: sic et in venerando justitiam sit filius et in ipsius copiam ministrando minister." 3 Seine Schrift de monarchia verherrlicht das Kaiserthum;
und in seiner göttlichen Komödie verehrt er in dem Kaiser die Spitze der gött- lichen Weltordnung. Vgl. Wegele Dante's Leben und Werke. Jena 1852. Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. allen Völkern Frieden und Recht gewähren. Der mittelalter-liche römische Kaiser galt nicht als absoluter Herr über alle Völker, sondern als gerechter Schirmer ihres Rechts und ihrer Freiheit. Die Kaiseridee, für welche sich ein Statsmann wie Friedrich II. 2 und ein Denker wie Dante 3 begeistert hatte, war so gereinigt. Das mittelalterliche Reich umfaszte eine grosze Anzahl wesentlich selbständiger Staten, welche zu einer Gesammtordnung zwar verbunden und formell dem Kaiser untergeordnet, aber in allen wesentlichen Be- ziehungen unabhängig waren und für sich lebten nach eigenem Willen. Die Mannichfaltigkeit auch des Volks- und Stammes- lebens wurde im Mittelalter mit Vorliebe geschützt und ge- pflegt. Aber was an sich ein Fortschritt war in der Entwick- lung des Weltstates, führte, weil zu einseitig verfolgt, zu dessen Auflösung. Der Trieb zur Sonderung wurde stärker als der Drang nach Einheit. Die Spaltung der Nationalitäten, der Gegensatz der Sprachen, hat Frankreich und Deutschland getrennt, und die fränkische Weltmonarchie in zwei Theile zerrissen. Der Erhebung der Fürsten und Landesherrn ver- mochte das karg ausgestattete deutsche König- und römische Kaiserthum nicht zu begegnen. Die deutsche Centralinstitution hatte keine centrale Unterlage, daher erhielt die Peripherie die Oberhand, und das Reich ging aus den Fugen. Wieder sind die Versuche verunglückt, aber wieder haben sie den nachfolgenden Geschlechtern beachtenswerthe Lehren hinter- lassen. In unserem Jahrhundert hat der Kaiser Napoleon I. 2 Friderici Constit. Regni Siculi I. 30.: „Oportet Caesarem fore justitiae patrem et filium, dominum et ministrum; patrem et dominum in edendo justitiam et editam conservando: sic et in venerando justitiam sit filius et in ipsius copiam ministrando minister.“ 3 Seine Schrift de monarchia verherrlicht das Kaiserthum;
und in seiner göttlichen Komödie verehrt er in dem Kaiser die Spitze der gött- lichen Weltordnung. Vgl. Wegele Dante's Leben und Werke. Jena 1852. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0049" n="31"/><fw place="top" type="header">Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.</fw><lb/> allen Völkern Frieden und Recht gewähren. Der mittelalter-<lb/> liche römische Kaiser galt nicht als absoluter Herr über alle<lb/> Völker, sondern als <hi rendition="#g">gerechter Schirmer</hi> ihres <hi rendition="#g">Rechts</hi><lb/> und ihrer <hi rendition="#g">Freiheit</hi>. Die Kaiseridee, für welche sich ein<lb/> Statsmann wie <hi rendition="#g">Friedrich</hi> II. <note place="foot" n="2">Friderici Constit. Regni Siculi I. 30.: „Oportet Caesarem fore<lb/> justitiae patrem et filium, dominum et ministrum; patrem et dominum<lb/> in edendo justitiam et editam conservando: sic et in venerando justitiam<lb/> sit filius et in ipsius copiam ministrando minister.“</note> und ein Denker wie<lb/><hi rendition="#g">Dante</hi> <note place="foot" n="3">Seine Schrift de monarchia verherrlicht das Kaiserthum;<lb/> und in<lb/> seiner göttlichen Komödie verehrt er in dem Kaiser die Spitze der gött-<lb/> lichen Weltordnung. Vgl. <hi rendition="#g">Wegele</hi> Dante's Leben und Werke. Jena 1852.</note><lb/> begeistert hatte, war so gereinigt. Das mittelalterliche Reich<lb/> umfaszte eine grosze Anzahl wesentlich selbständiger Staten,<lb/> welche zu einer Gesammtordnung zwar verbunden und formell<lb/> dem Kaiser untergeordnet, aber in allen wesentlichen Be-<lb/> ziehungen unabhängig waren und für sich lebten nach eigenem<lb/> Willen. Die Mannichfaltigkeit auch des Volks- und Stammes-<lb/> lebens wurde im Mittelalter mit Vorliebe geschützt und ge-<lb/> pflegt. Aber was an sich ein Fortschritt war in der Entwick-<lb/> lung des Weltstates, führte, weil zu einseitig verfolgt, zu<lb/> dessen Auflösung. Der Trieb zur Sonderung wurde stärker<lb/> als der Drang nach Einheit. Die Spaltung der Nationalitäten,<lb/> der Gegensatz der Sprachen, hat Frankreich und Deutschland<lb/> getrennt, und die fränkische Weltmonarchie in zwei Theile<lb/> zerrissen. Der Erhebung der Fürsten und Landesherrn ver-<lb/> mochte das karg ausgestattete deutsche König- und römische<lb/> Kaiserthum nicht zu begegnen. Die deutsche Centralinstitution<lb/> hatte keine centrale Unterlage, daher erhielt die Peripherie<lb/> die Oberhand, und das Reich ging aus den Fugen. Wieder<lb/> sind die Versuche verunglückt, aber wieder haben sie den<lb/> nachfolgenden Geschlechtern beachtenswerthe Lehren hinter-<lb/> lassen.</p><lb/> <p>In unserem Jahrhundert hat der Kaiser <hi rendition="#g">Napoleon</hi> I.<lb/> den Gedanken, der eine Zeit lang im Dunkel geblieben,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [31/0049]
Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
allen Völkern Frieden und Recht gewähren. Der mittelalter-
liche römische Kaiser galt nicht als absoluter Herr über alle
Völker, sondern als gerechter Schirmer ihres Rechts
und ihrer Freiheit. Die Kaiseridee, für welche sich ein
Statsmann wie Friedrich II. 2 und ein Denker wie
Dante 3
begeistert hatte, war so gereinigt. Das mittelalterliche Reich
umfaszte eine grosze Anzahl wesentlich selbständiger Staten,
welche zu einer Gesammtordnung zwar verbunden und formell
dem Kaiser untergeordnet, aber in allen wesentlichen Be-
ziehungen unabhängig waren und für sich lebten nach eigenem
Willen. Die Mannichfaltigkeit auch des Volks- und Stammes-
lebens wurde im Mittelalter mit Vorliebe geschützt und ge-
pflegt. Aber was an sich ein Fortschritt war in der Entwick-
lung des Weltstates, führte, weil zu einseitig verfolgt, zu
dessen Auflösung. Der Trieb zur Sonderung wurde stärker
als der Drang nach Einheit. Die Spaltung der Nationalitäten,
der Gegensatz der Sprachen, hat Frankreich und Deutschland
getrennt, und die fränkische Weltmonarchie in zwei Theile
zerrissen. Der Erhebung der Fürsten und Landesherrn ver-
mochte das karg ausgestattete deutsche König- und römische
Kaiserthum nicht zu begegnen. Die deutsche Centralinstitution
hatte keine centrale Unterlage, daher erhielt die Peripherie
die Oberhand, und das Reich ging aus den Fugen. Wieder
sind die Versuche verunglückt, aber wieder haben sie den
nachfolgenden Geschlechtern beachtenswerthe Lehren hinter-
lassen.
In unserem Jahrhundert hat der Kaiser Napoleon I.
den Gedanken, der eine Zeit lang im Dunkel geblieben,
2 Friderici Constit. Regni Siculi I. 30.: „Oportet Caesarem fore
justitiae patrem et filium, dominum et ministrum; patrem et dominum
in edendo justitiam et editam conservando: sic et in venerando justitiam
sit filius et in ipsius copiam ministrando minister.“
3 Seine Schrift de monarchia verherrlicht das Kaiserthum;
und in
seiner göttlichen Komödie verehrt er in dem Kaiser die Spitze der gött-
lichen Weltordnung. Vgl. Wegele Dante's Leben und Werke. Jena 1852.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |