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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.

Da die Aristokratie vorzugsweise die Macht der äuszern
Ordnung
aufrecht erhält, und von dieser ihre Erhaltung
erwartet, so ist sie in besonderem Masze auch eine Pflegerin
des Rechts, dessen formellen Bestand sie sorgfältig vor Er-
schütterung bewahrt. Man hat es daher mit Grund ihr nach-
gerühmt, dasz sie, wenn sie nicht in ihrer Existenz bedroht
scheine, und deszhalb ihre Leidenschaften gereizt werden,
gerechter sowohl im Verhältnisz zu den Unterthanen als zu
ihren eigenen Gliedern zu handeln pflege als die Demokratie.
Es ist kaum zufällig, dasz die welthistorische Ausbildung der
Rechtswissenschaft vorzüglich in dem eminent aristokratischen
Volke der Römer vor sich ging. Anerkannt auch ist die zwar
strenge aber unparteiische Rechtspflege der Venetianer, das
gute Recht, welches die Berner gehandhabt, das starke Rechts-
gefühl der aristokratischen Engländer, und während des Mittel-
alters nahm selbst die Politik die äuszere Gestalt des Rechts-
urtheils und seiner Vollstreckung an.

Die neuere Zeit ist der Aristokratie als Statsform so sehr
ungünstig, dasz sich keine einzige Aristokratie bis in die Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts hat behaupten können. Die
altrömische Aristokratie ist zuvor durch die aufstrebende

ordnung einer bewundernswürdigen Weisheit ist unsere Verfassung als
ein Ganzes, indem sie die grosze geheimniszvolle Verbindung des
Menschengeschlechtes nachbildet, zu keiner Zeit alt oder jung (?), son-
dern unveränderlich fortdauernd schreitet sie fort durch den mannich-
faltigen und im einzelnen unablässigen Wechsel der Abnahme und des
Untergangs, der Erneuerung und des Aufschwungs. Indem wir so die
Weise der Natur in der Leitung des States bewahren, werden wir in
unsern Verbesserungen niemals ganz neu sein, und in dem was wir er-
halten, nie ganz alt. Indem wir so der Erblichkeit anhängen, haben
wir unserer Statsordnung das Bild einer Bluts- und Familienverbindung
aufgeprägt, verknüpfen wir unsere Landesverfassung mit unsern theuer-
sten häuslichen Banden, nehmen wir die Fundamentalgesetze auf in das
Heiligthum unserer Familienliebe, umfassen wir unzertrennlich und mit
der Wärme der verschlungenen und wechselseitig wiederstrahlenden Zu-
neigungen unsern Stat, unsern Herd, unsere Gräber und unsere Altäre."
Sechstes Buch. Die Statsformen.

Da die Aristokratie vorzugsweise die Macht der äuszern
Ordnung
aufrecht erhält, und von dieser ihre Erhaltung
erwartet, so ist sie in besonderem Masze auch eine Pflegerin
des Rechts, dessen formellen Bestand sie sorgfältig vor Er-
schütterung bewahrt. Man hat es daher mit Grund ihr nach-
gerühmt, dasz sie, wenn sie nicht in ihrer Existenz bedroht
scheine, und deszhalb ihre Leidenschaften gereizt werden,
gerechter sowohl im Verhältnisz zu den Unterthanen als zu
ihren eigenen Gliedern zu handeln pflege als die Demokratie.
Es ist kaum zufällig, dasz die welthistorische Ausbildung der
Rechtswissenschaft vorzüglich in dem eminent aristokratischen
Volke der Römer vor sich ging. Anerkannt auch ist die zwar
strenge aber unparteiische Rechtspflege der Venetianer, das
gute Recht, welches die Berner gehandhabt, das starke Rechts-
gefühl der aristokratischen Engländer, und während des Mittel-
alters nahm selbst die Politik die äuszere Gestalt des Rechts-
urtheils und seiner Vollstreckung an.

Die neuere Zeit ist der Aristokratie als Statsform so sehr
ungünstig, dasz sich keine einzige Aristokratie bis in die Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts hat behaupten können. Die
altrömische Aristokratie ist zuvor durch die aufstrebende

ordnung einer bewundernswürdigen Weisheit ist unsere Verfassung als
ein Ganzes, indem sie die grosze geheimniszvolle Verbindung des
Menschengeschlechtes nachbildet, zu keiner Zeit alt oder jung (?), son-
dern unveränderlich fortdauernd schreitet sie fort durch den mannich-
faltigen und im einzelnen unablässigen Wechsel der Abnahme und des
Untergangs, der Erneuerung und des Aufschwungs. Indem wir so die
Weise der Natur in der Leitung des States bewahren, werden wir in
unsern Verbesserungen niemals ganz neu sein, und in dem was wir er-
halten, nie ganz alt. Indem wir so der Erblichkeit anhängen, haben
wir unserer Statsordnung das Bild einer Bluts- und Familienverbindung
aufgeprägt, verknüpfen wir unsere Landesverfassung mit unsern theuer-
sten häuslichen Banden, nehmen wir die Fundamentalgesetze auf in das
Heiligthum unserer Familienliebe, umfassen wir unzertrennlich und mit
der Wärme der verschlungenen und wechselseitig wiederstrahlenden Zu-
neigungen unsern Stat, unsern Herd, unsere Gräber und unsere Altäre.“
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[524/0542] Sechstes Buch. Die Statsformen. Da die Aristokratie vorzugsweise die Macht der äuszern Ordnung aufrecht erhält, und von dieser ihre Erhaltung erwartet, so ist sie in besonderem Masze auch eine Pflegerin des Rechts, dessen formellen Bestand sie sorgfältig vor Er- schütterung bewahrt. Man hat es daher mit Grund ihr nach- gerühmt, dasz sie, wenn sie nicht in ihrer Existenz bedroht scheine, und deszhalb ihre Leidenschaften gereizt werden, gerechter sowohl im Verhältnisz zu den Unterthanen als zu ihren eigenen Gliedern zu handeln pflege als die Demokratie. Es ist kaum zufällig, dasz die welthistorische Ausbildung der Rechtswissenschaft vorzüglich in dem eminent aristokratischen Volke der Römer vor sich ging. Anerkannt auch ist die zwar strenge aber unparteiische Rechtspflege der Venetianer, das gute Recht, welches die Berner gehandhabt, das starke Rechts- gefühl der aristokratischen Engländer, und während des Mittel- alters nahm selbst die Politik die äuszere Gestalt des Rechts- urtheils und seiner Vollstreckung an. Die neuere Zeit ist der Aristokratie als Statsform so sehr ungünstig, dasz sich keine einzige Aristokratie bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat behaupten können. Die altrömische Aristokratie ist zuvor durch die aufstrebende 6 6 ordnung einer bewundernswürdigen Weisheit ist unsere Verfassung als ein Ganzes, indem sie die grosze geheimniszvolle Verbindung des Menschengeschlechtes nachbildet, zu keiner Zeit alt oder jung (?), son- dern unveränderlich fortdauernd schreitet sie fort durch den mannich- faltigen und im einzelnen unablässigen Wechsel der Abnahme und des Untergangs, der Erneuerung und des Aufschwungs. Indem wir so die Weise der Natur in der Leitung des States bewahren, werden wir in unsern Verbesserungen niemals ganz neu sein, und in dem was wir er- halten, nie ganz alt. Indem wir so der Erblichkeit anhängen, haben wir unserer Statsordnung das Bild einer Bluts- und Familienverbindung aufgeprägt, verknüpfen wir unsere Landesverfassung mit unsern theuer- sten häuslichen Banden, nehmen wir die Fundamentalgesetze auf in das Heiligthum unserer Familienliebe, umfassen wir unzertrennlich und mit der Wärme der verschlungenen und wechselseitig wiederstrahlenden Zu- neigungen unsern Stat, unsern Herd, unsere Gräber und unsere Altäre.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/542>, abgerufen am 23.11.2024.