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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr.
Souveräns. Das charakteristische Merkmal der demokratischen
Verfassung, dasz die Mehrheit herrsche, und jeder Bürger
Antheil an der obrigkeitlichen Macht habe, war hier völlig
ausgebildet. Jedem stand es frei, das Wort zu ergreifen und
zu dem Volke zu sprechen. Zu Solons Zeit noch gab das
erfahrene Alter einen Vorzug, aber diese, wie die übrigen
Beschränkungen der demokratischen Gleichheit wurden bald
lästig befunden und verworfen. Dem Sprechtalent wurde freier
Spielraum eröffnet, und die Gewalt der Rede elektrisirte und
lenkte die Menge schrankenlos. Ein Glück war es, wenn
grosze Statsmänner wie Perikles, als Redner ihr Urtheil
bestimmten; aber häufiger noch bemächtigten sich schlaue und
ehrgeizige Demagogen der Gemüther, und indem sie es ver-
standen, die Leidenschaften der Versammlung zu erregen und
ihrer Selbstsucht zu schmeicheln, regierten sie die Masse
wechselseitig. Von dieser groszen Wirkung der Rede haben
wir in dem modernen Stat keine völlig entsprechende An-
schauung mehr. Sie ergriff die Zuhörer massenhafter und
stärker als die Presse die zerstreuten Leser. Der Eindruck
war unmittelbarer und lebendiger. Die Stimme des Redners,
der Glanz der Augen, die Gebärden desselben erhöhten die
Bedeutung und den Nachdruck seiner Worte, und die erregte
Stimmung der lauschenden und ihrer Macht bewuszten Menge
gab der Verhandlung einen gewaltigeren Schwung. Auch die
mündlichen Verhandlungen und Reden in unsern Parlamenten
haben nicht denselben Grad von Einflusz, theils weil die Ver-
sammlungen selbst viel kleiner und gewählter, theils weil sie
beschränkter in ihrer politischen Macht sind.

Die Befugnisse der Volksversammlungen waren sehr aus-
gedehnt. Sie umfaszten das ganze Statsleben. Solon hatte
dieselben noch beschränkt auf die Wahlen der Magistrate, die
Controle der Regierung, und die Berathung über die Gesetze.
Aber im Gefühl seiner Uebermacht überschritt der von den
Rednern geführte Demos die Schranken der Solonischen Ver-

Zwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr.
Souveräns. Das charakteristische Merkmal der demokratischen
Verfassung, dasz die Mehrheit herrsche, und jeder Bürger
Antheil an der obrigkeitlichen Macht habe, war hier völlig
ausgebildet. Jedem stand es frei, das Wort zu ergreifen und
zu dem Volke zu sprechen. Zu Solons Zeit noch gab das
erfahrene Alter einen Vorzug, aber diese, wie die übrigen
Beschränkungen der demokratischen Gleichheit wurden bald
lästig befunden und verworfen. Dem Sprechtalent wurde freier
Spielraum eröffnet, und die Gewalt der Rede elektrisirte und
lenkte die Menge schrankenlos. Ein Glück war es, wenn
grosze Statsmänner wie Perikles, als Redner ihr Urtheil
bestimmten; aber häufiger noch bemächtigten sich schlaue und
ehrgeizige Demagogen der Gemüther, und indem sie es ver-
standen, die Leidenschaften der Versammlung zu erregen und
ihrer Selbstsucht zu schmeicheln, regierten sie die Masse
wechselseitig. Von dieser groszen Wirkung der Rede haben
wir in dem modernen Stat keine völlig entsprechende An-
schauung mehr. Sie ergriff die Zuhörer massenhafter und
stärker als die Presse die zerstreuten Leser. Der Eindruck
war unmittelbarer und lebendiger. Die Stimme des Redners,
der Glanz der Augen, die Gebärden desselben erhöhten die
Bedeutung und den Nachdruck seiner Worte, und die erregte
Stimmung der lauschenden und ihrer Macht bewuszten Menge
gab der Verhandlung einen gewaltigeren Schwung. Auch die
mündlichen Verhandlungen und Reden in unsern Parlamenten
haben nicht denselben Grad von Einflusz, theils weil die Ver-
sammlungen selbst viel kleiner und gewählter, theils weil sie
beschränkter in ihrer politischen Macht sind.

Die Befugnisse der Volksversammlungen waren sehr aus-
gedehnt. Sie umfaszten das ganze Statsleben. Solon hatte
dieselben noch beschränkt auf die Wahlen der Magistrate, die
Controle der Regierung, und die Berathung über die Gesetze.
Aber im Gefühl seiner Uebermacht überschritt der von den
Rednern geführte Demos die Schranken der Solonischen Ver-

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[527/0545] Zwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr. Souveräns. Das charakteristische Merkmal der demokratischen Verfassung, dasz die Mehrheit herrsche, und jeder Bürger Antheil an der obrigkeitlichen Macht habe, war hier völlig ausgebildet. Jedem stand es frei, das Wort zu ergreifen und zu dem Volke zu sprechen. Zu Solons Zeit noch gab das erfahrene Alter einen Vorzug, aber diese, wie die übrigen Beschränkungen der demokratischen Gleichheit wurden bald lästig befunden und verworfen. Dem Sprechtalent wurde freier Spielraum eröffnet, und die Gewalt der Rede elektrisirte und lenkte die Menge schrankenlos. Ein Glück war es, wenn grosze Statsmänner wie Perikles, als Redner ihr Urtheil bestimmten; aber häufiger noch bemächtigten sich schlaue und ehrgeizige Demagogen der Gemüther, und indem sie es ver- standen, die Leidenschaften der Versammlung zu erregen und ihrer Selbstsucht zu schmeicheln, regierten sie die Masse wechselseitig. Von dieser groszen Wirkung der Rede haben wir in dem modernen Stat keine völlig entsprechende An- schauung mehr. Sie ergriff die Zuhörer massenhafter und stärker als die Presse die zerstreuten Leser. Der Eindruck war unmittelbarer und lebendiger. Die Stimme des Redners, der Glanz der Augen, die Gebärden desselben erhöhten die Bedeutung und den Nachdruck seiner Worte, und die erregte Stimmung der lauschenden und ihrer Macht bewuszten Menge gab der Verhandlung einen gewaltigeren Schwung. Auch die mündlichen Verhandlungen und Reden in unsern Parlamenten haben nicht denselben Grad von Einflusz, theils weil die Ver- sammlungen selbst viel kleiner und gewählter, theils weil sie beschränkter in ihrer politischen Macht sind. Die Befugnisse der Volksversammlungen waren sehr aus- gedehnt. Sie umfaszten das ganze Statsleben. Solon hatte dieselben noch beschränkt auf die Wahlen der Magistrate, die Controle der Regierung, und die Berathung über die Gesetze. Aber im Gefühl seiner Uebermacht überschritt der von den Rednern geführte Demos die Schranken der Solonischen Ver-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/545>, abgerufen am 23.11.2024.