Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. 1. Die antike Welt.
Drittes Capitel.
Entwicklungsgeschichte der Statsidee.
I. Die antike Welt.
A. Die hellenische Statsidee.

Die eigentliche Statswissenschaft beginnt zuerst unter den
Hellenen. In Hellas gelangte das menschliche Selbstbewuszt-
sein zuerst wie zu künstlerischer und philosophischer, so auch
zu politischer Entfaltung.

So klein das Gebiet der hellenischen Staten und so be-
schränkt ihre Macht noch war, so breit und umfassend war
die Grundlage, auf der sich der hellenische Statsgedanke
erhob, und so hoch und edel ist die Statsidee, welche die
griechischen Denker aussprechen. Sie gründen den Stat auf
die Menschennatur, und sind der Meinung, nur im State
könne der Mensch seine Vollkommenheit erreichen und die
wahre Befriedigung finden. Der Stat ist ihnen die sittliche
Weltordnung
, in welcher die Menschennatur ihre Bestim-
mung erfüllt.

Platon (Rep. V.) spricht das grosze Wort aus: "Je mehr
sich der Stat in seiner Organisation dem Menschen nähert,
desto besser ist es. Leidet ein Theil des Statskörpers, oder
befindet er sich wohl, so wird der ganze Staatskörper diese
Empfindung als die seinige ansehen, und mitleiden oder sich
dessen erfreuen." Er hat somit die organische und zwar die
menschlich-organische Natur des States bereits erkannt, obwohl
diesen fruchtbaren Gedanken noch nicht in seinen Consequenzen
verfolgt.

Der Stat ist nach Platon die höchste Offenbarung der
menschlichen Tugend, die harmonische Darstellung der
menschlichen Seelenkräfte, die vollkommene Menschheit.
Wie die Seele des Menschen aus bewuszter Geisteskraft

Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. 1. Die antike Welt.
Drittes Capitel.
Entwicklungsgeschichte der Statsidee.
I. Die antike Welt.
A. Die hellenische Statsidee.

Die eigentliche Statswissenschaft beginnt zuerst unter den
Hellenen. In Hellas gelangte das menschliche Selbstbewuszt-
sein zuerst wie zu künstlerischer und philosophischer, so auch
zu politischer Entfaltung.

So klein das Gebiet der hellenischen Staten und so be-
schränkt ihre Macht noch war, so breit und umfassend war
die Grundlage, auf der sich der hellenische Statsgedanke
erhob, und so hoch und edel ist die Statsidee, welche die
griechischen Denker aussprechen. Sie gründen den Stat auf
die Menschennatur, und sind der Meinung, nur im State
könne der Mensch seine Vollkommenheit erreichen und die
wahre Befriedigung finden. Der Stat ist ihnen die sittliche
Weltordnung
, in welcher die Menschennatur ihre Bestim-
mung erfüllt.

Platon (Rep. V.) spricht das grosze Wort aus: „Je mehr
sich der Stat in seiner Organisation dem Menschen nähert,
desto besser ist es. Leidet ein Theil des Statskörpers, oder
befindet er sich wohl, so wird der ganze Staatskörper diese
Empfindung als die seinige ansehen, und mitleiden oder sich
dessen erfreuen.“ Er hat somit die organische und zwar die
menschlich-organische Natur des States bereits erkannt, obwohl
diesen fruchtbaren Gedanken noch nicht in seinen Consequenzen
verfolgt.

Der Stat ist nach Platon die höchste Offenbarung der
menschlichen Tugend, die harmonische Darstellung der
menschlichen Seelenkräfte, die vollkommene Menschheit.
Wie die Seele des Menschen aus bewuszter Geisteskraft

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0055" n="37"/>
        <fw place="top" type="header">Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. 1. Die antike Welt.</fw><lb/>
        <div n="2">
          <head>Drittes Capitel.<lb/><hi rendition="#b">Entwicklungsgeschichte der Statsidee.<lb/>
I. Die antike Welt.</hi></head><lb/>
          <div n="3">
            <head>A. Die <hi rendition="#g">hellenische</hi> Statsidee.</head><lb/>
            <p>Die eigentliche Statswissenschaft beginnt zuerst unter den<lb/>
Hellenen. In Hellas gelangte das menschliche Selbstbewuszt-<lb/>
sein zuerst wie zu künstlerischer und philosophischer, so auch<lb/>
zu politischer Entfaltung.</p><lb/>
            <p>So klein das Gebiet der hellenischen Staten und so be-<lb/>
schränkt ihre Macht noch war, so breit und umfassend war<lb/>
die Grundlage, auf der sich der hellenische Statsgedanke<lb/>
erhob, und so hoch und edel ist die Statsidee, welche die<lb/>
griechischen Denker aussprechen. Sie gründen den Stat auf<lb/>
die <hi rendition="#g">Menschennatur</hi>, und sind der Meinung, nur im State<lb/>
könne der Mensch seine Vollkommenheit erreichen und die<lb/>
wahre Befriedigung finden. Der Stat ist ihnen die <hi rendition="#g">sittliche<lb/>
Weltordnung</hi>, in welcher die Menschennatur ihre Bestim-<lb/>
mung erfüllt.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Platon</hi> (Rep. V.) spricht das grosze Wort aus: &#x201E;Je mehr<lb/>
sich der Stat in seiner Organisation dem <hi rendition="#g">Menschen</hi> nähert,<lb/>
desto besser ist es. Leidet ein Theil des Statskörpers, oder<lb/>
befindet er sich wohl, so wird der ganze Staatskörper diese<lb/>
Empfindung als die seinige ansehen, und mitleiden oder sich<lb/>
dessen erfreuen.&#x201C; Er hat somit die organische und zwar die<lb/>
menschlich-organische Natur des States bereits erkannt, obwohl<lb/>
diesen fruchtbaren Gedanken noch nicht in seinen Consequenzen<lb/>
verfolgt.</p><lb/>
            <p>Der Stat ist nach Platon die höchste Offenbarung der<lb/>
menschlichen Tugend, die harmonische Darstellung der<lb/>
menschlichen Seelenkräfte, die vollkommene Menschheit.<lb/>
Wie die Seele des Menschen aus bewuszter Geisteskraft<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[37/0055] Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. 1. Die antike Welt. Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt. A. Die hellenische Statsidee. Die eigentliche Statswissenschaft beginnt zuerst unter den Hellenen. In Hellas gelangte das menschliche Selbstbewuszt- sein zuerst wie zu künstlerischer und philosophischer, so auch zu politischer Entfaltung. So klein das Gebiet der hellenischen Staten und so be- schränkt ihre Macht noch war, so breit und umfassend war die Grundlage, auf der sich der hellenische Statsgedanke erhob, und so hoch und edel ist die Statsidee, welche die griechischen Denker aussprechen. Sie gründen den Stat auf die Menschennatur, und sind der Meinung, nur im State könne der Mensch seine Vollkommenheit erreichen und die wahre Befriedigung finden. Der Stat ist ihnen die sittliche Weltordnung, in welcher die Menschennatur ihre Bestim- mung erfüllt. Platon (Rep. V.) spricht das grosze Wort aus: „Je mehr sich der Stat in seiner Organisation dem Menschen nähert, desto besser ist es. Leidet ein Theil des Statskörpers, oder befindet er sich wohl, so wird der ganze Staatskörper diese Empfindung als die seinige ansehen, und mitleiden oder sich dessen erfreuen.“ Er hat somit die organische und zwar die menschlich-organische Natur des States bereits erkannt, obwohl diesen fruchtbaren Gedanken noch nicht in seinen Consequenzen verfolgt. Der Stat ist nach Platon die höchste Offenbarung der menschlichen Tugend, die harmonische Darstellung der menschlichen Seelenkräfte, die vollkommene Menschheit. Wie die Seele des Menschen aus bewuszter Geisteskraft

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/55
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/55>, abgerufen am 23.11.2024.