Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc. kratien nirgends mehr. Wo es irgend möglich schien, handeltedie Masse der gleichen Bürger selbst, denn die Repräsentation durch einzelne Auserwählte begründet schon einen Vorzug und Vorrang dieser. Wo aber dennoch einzelne Beamte oder Räthe bestellt werden muszten, da zogen die Athener in der Regel der unterscheidenden und die für besser geachteten Männer aussondernden Wahl das blinde Loos vor, welches unbeküm- mert um die höhere Einsicht und Tugend Einzelner in die gleiche Masse greift und bald diesen bald jenen hervorzieht; und damit nicht etwa der Vorzug des Amtes, wenn es an- daure, doch wieder die Beamten über die Menge erhebe, begegneten sie dieser Gefahr durch häufigen Wechsel der ge- loosten Würdeträger. 4 Schon die Existenz von Beamten, die Gehorsam fordern, ist dem demokratischen Grundsatze der Gleichheit aller Bürger zuwider; erscheint dieselbe unentbehr- lich und unvermeidlich, so soll daher diese Art der Ungleich- heit durch das Loos und den Wechsel gemildert werden. Die Gleichheit nämlich, auf welcher die Demokratie beruht, ist die Gleichheit der Zahl. Ihr Ausdruck ist nicht: "Jedem nach seinen Verhältnissen," sondern: "Einer wie der andere." 5 Eine andere Consequenz dieser demokratischen Rechts- 4 Vgl. Aristot. Polit. VI. 1, 8. 5 Aristoteles bezeichnet den Gegensatz Polit. V. 1, 7. und VI. 1, 6.
"To ison kat' arithmon alla me kat' axian." Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc. kratien nirgends mehr. Wo es irgend möglich schien, handeltedie Masse der gleichen Bürger selbst, denn die Repräsentation durch einzelne Auserwählte begründet schon einen Vorzug und Vorrang dieser. Wo aber dennoch einzelne Beamte oder Räthe bestellt werden muszten, da zogen die Athener in der Regel der unterscheidenden und die für besser geachteten Männer aussondernden Wahl das blinde Loos vor, welches unbeküm- mert um die höhere Einsicht und Tugend Einzelner in die gleiche Masse greift und bald diesen bald jenen hervorzieht; und damit nicht etwa der Vorzug des Amtes, wenn es an- daure, doch wieder die Beamten über die Menge erhebe, begegneten sie dieser Gefahr durch häufigen Wechsel der ge- loosten Würdeträger. 4 Schon die Existenz von Beamten, die Gehorsam fordern, ist dem demokratischen Grundsatze der Gleichheit aller Bürger zuwider; erscheint dieselbe unentbehr- lich und unvermeidlich, so soll daher diese Art der Ungleich- heit durch das Loos und den Wechsel gemildert werden. Die Gleichheit nämlich, auf welcher die Demokratie beruht, ist die Gleichheit der Zahl. Ihr Ausdruck ist nicht: „Jedem nach seinen Verhältnissen,“ sondern: „Einer wie der andere.“ 5 Eine andere Consequenz dieser demokratischen Rechts- 4 Vgl. Aristot. Polit. VI. 1, 8. 5 Aristoteles bezeichnet den Gegensatz Polit. V. 1, 7. und VI. 1, 6.
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Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc.
kratien nirgends mehr. Wo es irgend möglich schien, handelte
die Masse der gleichen Bürger selbst, denn die Repräsentation
durch einzelne Auserwählte begründet schon einen Vorzug und
Vorrang dieser. Wo aber dennoch einzelne Beamte oder Räthe
bestellt werden muszten, da zogen die Athener in der Regel
der unterscheidenden und die für besser geachteten Männer
aussondernden Wahl das blinde Loos vor, welches unbeküm-
mert um die höhere Einsicht und Tugend Einzelner in die
gleiche Masse greift und bald diesen bald jenen hervorzieht;
und damit nicht etwa der Vorzug des Amtes, wenn es an-
daure, doch wieder die Beamten über die Menge erhebe,
begegneten sie dieser Gefahr durch häufigen Wechsel der ge-
loosten Würdeträger. 4 Schon die Existenz von Beamten, die
Gehorsam fordern, ist dem demokratischen Grundsatze der
Gleichheit aller Bürger zuwider; erscheint dieselbe unentbehr-
lich und unvermeidlich, so soll daher diese Art der Ungleich-
heit durch das Loos und den Wechsel gemildert werden. Die
Gleichheit nämlich, auf welcher die Demokratie beruht, ist
die Gleichheit der Zahl. Ihr Ausdruck ist nicht: „Jedem
nach seinen Verhältnissen,“ sondern: „Einer wie
der andere.“ 5
Eine andere Consequenz dieser demokratischen Rechts-
gleichheit ist der Ostracismus, bei den Griechen in offener,
theilweise sogar ehrenvoller Form ausgebildet, in den neuern
Demokratien nicht formell anerkannt, aber von Zeit zu Zeit
thatsächlich, und dann zuweilen auch in schmählicher Weise
geübt. Jede Verfassung musz, wenn sie bestehen soll, die
mit ihrem Bestand unverträglichen Elemente ausstoszen können.
Insofern ist die reine Demokratie nicht zu tadeln, wenn sie
einzelne Bürger, welche durch ihre persönliche Ueberlegen-
heit die allgemeine Gleichheit gefährden, verbannt, wie die
4 Vgl. Aristot. Polit. VI. 1, 8.
5 Aristoteles bezeichnet den Gegensatz Polit. V. 1, 7. und VI. 1, 6.
„Τὸ ἲσον ϰατ᾽ ἀϱιϑμὸν ἀλλὰ μὴ ϰατ᾽ ἀξίαν.“
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Zitationshilfe: | Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/553>, abgerufen am 26.06.2024. |