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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
geübt und sind 1874 auch in die Bundesverfassung eingeführt
worden. 3

c) In den Wahlen der Mitglieder des gesetzgebenden
Körpers
. Meistens ist bei diesen Wahlen das mathematische
Princip gleicher Wahlkreise und der bloszen Kopfzahl der
Wahlart zu Grunde gelegt, seltener organische Gliederungen,
wie z. B. die Gemeinden. Die Vertretung wird daher gewöhn-
lich unvollständig und allzusehr von bloszen Parteirichtungen
bestimmt. Es ist das indessen ein Fehler, welcher mit der
repräsentativen Demokratie keineswegs nothwendig verbunden
ist, noch bei ihr allein vorkommt. Die Wahl der Kammern
in der neuen constitutionellen Monarchie leidet häufig an
demselben Uebel.

5. Die regelmäszige Ausübung der höchsten Stats-
gewalt
wird dagegen gewöhnlich den groszen Repräsen-
tativversammlungen
zugeschrieben, welche so als die vor-
züglichste und umfassendste Stellvertretung des souveränen
Volkes gewählt sind.

Im Mittelalter waren die groszen Räthe in den
schweizerischen Städtecantonen, und die Landräthe in
den Ländern nur eine Erweiterung der eigentlichen
Räthe
, in welchen die Obrigkeit der Stadt oder des Landes
concentrirt war, eine Erweiterung durch Ausschüsse der Bür-
ger und Landleute für die wichtigeren Angelegenheiten, in
den Städten namentlich auch für die Gesetzgebung. In der
neuern Zeit aber sind die groszen Räthe von den Regierungen
getrennt, über diese gestellt, und zu dem beauftragten Träger
der Souveränetät erhoben worden. 4 Eine ähnliche Stellung

3 Bundesverfassung von 1874. Art. 89. "Bundesgesetze, sowie
allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur
sind, sollen überdiesz dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorge-
legt werden, wenn es von 30,000 stimmberechtigten Schweizerbürgern
oder von acht Cantonen verlangt wird."
4 Züricher Verfassung von 1831. §. 38: "Die Ausübung der
höchsten Gewalt nach Vorschrift der Verfassung ist einem Groszen Rathe "

Sechstes Buch. Die Statsformen.
geübt und sind 1874 auch in die Bundesverfassung eingeführt
worden. 3

c) In den Wahlen der Mitglieder des gesetzgebenden
Körpers
. Meistens ist bei diesen Wahlen das mathematische
Princip gleicher Wahlkreise und der bloszen Kopfzahl der
Wahlart zu Grunde gelegt, seltener organische Gliederungen,
wie z. B. die Gemeinden. Die Vertretung wird daher gewöhn-
lich unvollständig und allzusehr von bloszen Parteirichtungen
bestimmt. Es ist das indessen ein Fehler, welcher mit der
repräsentativen Demokratie keineswegs nothwendig verbunden
ist, noch bei ihr allein vorkommt. Die Wahl der Kammern
in der neuen constitutionellen Monarchie leidet häufig an
demselben Uebel.

5. Die regelmäszige Ausübung der höchsten Stats-
gewalt
wird dagegen gewöhnlich den groszen Repräsen-
tativversammlungen
zugeschrieben, welche so als die vor-
züglichste und umfassendste Stellvertretung des souveränen
Volkes gewählt sind.

Im Mittelalter waren die groszen Räthe in den
schweizerischen Städtecantonen, und die Landräthe in
den Ländern nur eine Erweiterung der eigentlichen
Räthe
, in welchen die Obrigkeit der Stadt oder des Landes
concentrirt war, eine Erweiterung durch Ausschüsse der Bür-
ger und Landleute für die wichtigeren Angelegenheiten, in
den Städten namentlich auch für die Gesetzgebung. In der
neuern Zeit aber sind die groszen Räthe von den Regierungen
getrennt, über diese gestellt, und zu dem beauftragten Träger
der Souveränetät erhoben worden. 4 Eine ähnliche Stellung

3 Bundesverfassung von 1874. Art. 89. „Bundesgesetze, sowie
allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur
sind, sollen überdiesz dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorge-
legt werden, wenn es von 30,000 stimmberechtigten Schweizerbürgern
oder von acht Cantonen verlangt wird.“
4 Züricher Verfassung von 1831. §. 38: „Die Ausübung der
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[546/0564] Sechstes Buch. Die Statsformen. geübt und sind 1874 auch in die Bundesverfassung eingeführt worden. 3 c) In den Wahlen der Mitglieder des gesetzgebenden Körpers. Meistens ist bei diesen Wahlen das mathematische Princip gleicher Wahlkreise und der bloszen Kopfzahl der Wahlart zu Grunde gelegt, seltener organische Gliederungen, wie z. B. die Gemeinden. Die Vertretung wird daher gewöhn- lich unvollständig und allzusehr von bloszen Parteirichtungen bestimmt. Es ist das indessen ein Fehler, welcher mit der repräsentativen Demokratie keineswegs nothwendig verbunden ist, noch bei ihr allein vorkommt. Die Wahl der Kammern in der neuen constitutionellen Monarchie leidet häufig an demselben Uebel. 5. Die regelmäszige Ausübung der höchsten Stats- gewalt wird dagegen gewöhnlich den groszen Repräsen- tativversammlungen zugeschrieben, welche so als die vor- züglichste und umfassendste Stellvertretung des souveränen Volkes gewählt sind. Im Mittelalter waren die groszen Räthe in den schweizerischen Städtecantonen, und die Landräthe in den Ländern nur eine Erweiterung der eigentlichen Räthe, in welchen die Obrigkeit der Stadt oder des Landes concentrirt war, eine Erweiterung durch Ausschüsse der Bür- ger und Landleute für die wichtigeren Angelegenheiten, in den Städten namentlich auch für die Gesetzgebung. In der neuern Zeit aber sind die groszen Räthe von den Regierungen getrennt, über diese gestellt, und zu dem beauftragten Träger der Souveränetät erhoben worden. 4 Eine ähnliche Stellung 3 Bundesverfassung von 1874. Art. 89. „Bundesgesetze, sowie allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur sind, sollen überdiesz dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorge- legt werden, wenn es von 30,000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von acht Cantonen verlangt wird.“ 4 Züricher Verfassung von 1831. §. 38: „Die Ausübung der höchsten Gewalt nach Vorschrift der Verfassung ist einem Groszen Rathe “

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/564>, abgerufen am 22.11.2024.