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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
andern Theilgewalten wie das Haupt zu den Gliedern des
Leibes. Die sogenannte Repräsentativgewalt aber ist in
ihr inbegriffen.

Bezieht sich diese Gewalt auf die Leitung des States
im Groszen und Ganzen, so heiszen wir sie politische Re-
gierung
(gouvernement politique), bezieht sie sich auf das
Kleine und Einzelne, so heiszen wir sie Verwaltung (Ad-
ministration).

II. Die richterliche Gewalt wird sehr häufig als ur-
theilende
Gewalt aufgefaszt, eine Verwechslung, welche der
französische Ausdruck pouvoir judicaire begünstigt. Das Wesen
der richterlichen Gewalt liegt aber nicht im Urtheilen, sondern
im Richten, oder wie die Römer das gesagt haben: nicht
in judicio, sondern in jure. Das Urtheilen in dem Sinne, das
Recht im einzelnen Falle zu erkennen und auszusprechen, ist
gar nicht nothwendig eine obrigkeitliche Function, noch die
Ausübung einer statlichen Gewalt oder Macht. Zu Rom
waren es gewöhnlich Privatpersonen, welche als Urtheiler (ju-
dices) das Recht aussprachen; im deutschen Mittelalter hatten
die Schöffen, nicht die Richter, in neuerer Zeit haben oft die
Geschworenen aus dem Volke, nicht die Magistrate zu urthei-
len. Das Richten dagegen, d. h. die Gewährung des Rechts-
schutzes, und die Handhabung des Rechts gegen die Störungen
und Verletzungen der Rechte der Individuen und der gemeinen
Rechtsordnung ist von jeher als eine obrigkeitliche Thätig-
keit angesehen, und daher überall richterlichen Magistraten
und Beamten als eine statliche Gewalt zugetheilt worden.

Sie unterscheidet sich von der Regierungsgewalt wesent-
lich dadurch, dasz sie nicht wie diese Herrschaft übt, son-
dern lediglich das erkannte und anerkannte Recht
schirmt und anwendet
. Sind die Functionen des Regi-
ments denen der geistigen Kräfte im Menschen vergleich-
bar, so sind die Functionen des Gerichts von wesentlich
moralischer Natur.


Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
andern Theilgewalten wie das Haupt zu den Gliedern des
Leibes. Die sogenannte Repräsentativgewalt aber ist in
ihr inbegriffen.

Bezieht sich diese Gewalt auf die Leitung des States
im Groszen und Ganzen, so heiszen wir sie politische Re-
gierung
(gouvernement politique), bezieht sie sich auf das
Kleine und Einzelne, so heiszen wir sie Verwaltung (Ad-
ministration).

II. Die richterliche Gewalt wird sehr häufig als ur-
theilende
Gewalt aufgefaszt, eine Verwechslung, welche der
französische Ausdruck pouvoir judicaire begünstigt. Das Wesen
der richterlichen Gewalt liegt aber nicht im Urtheilen, sondern
im Richten, oder wie die Römer das gesagt haben: nicht
in judicio, sondern in jure. Das Urtheilen in dem Sinne, das
Recht im einzelnen Falle zu erkennen und auszusprechen, ist
gar nicht nothwendig eine obrigkeitliche Function, noch die
Ausübung einer statlichen Gewalt oder Macht. Zu Rom
waren es gewöhnlich Privatpersonen, welche als Urtheiler (ju-
dices) das Recht aussprachen; im deutschen Mittelalter hatten
die Schöffen, nicht die Richter, in neuerer Zeit haben oft die
Geschworenen aus dem Volke, nicht die Magistrate zu urthei-
len. Das Richten dagegen, d. h. die Gewährung des Rechts-
schutzes, und die Handhabung des Rechts gegen die Störungen
und Verletzungen der Rechte der Individuen und der gemeinen
Rechtsordnung ist von jeher als eine obrigkeitliche Thätig-
keit angesehen, und daher überall richterlichen Magistraten
und Beamten als eine statliche Gewalt zugetheilt worden.

Sie unterscheidet sich von der Regierungsgewalt wesent-
lich dadurch, dasz sie nicht wie diese Herrschaft übt, son-
dern lediglich das erkannte und anerkannte Recht
schirmt und anwendet
. Sind die Functionen des Regi-
ments denen der geistigen Kräfte im Menschen vergleich-
bar, so sind die Functionen des Gerichts von wesentlich
moralischer Natur.


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[595/0613] Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. andern Theilgewalten wie das Haupt zu den Gliedern des Leibes. Die sogenannte Repräsentativgewalt aber ist in ihr inbegriffen. Bezieht sich diese Gewalt auf die Leitung des States im Groszen und Ganzen, so heiszen wir sie politische Re- gierung (gouvernement politique), bezieht sie sich auf das Kleine und Einzelne, so heiszen wir sie Verwaltung (Ad- ministration). II. Die richterliche Gewalt wird sehr häufig als ur- theilende Gewalt aufgefaszt, eine Verwechslung, welche der französische Ausdruck pouvoir judicaire begünstigt. Das Wesen der richterlichen Gewalt liegt aber nicht im Urtheilen, sondern im Richten, oder wie die Römer das gesagt haben: nicht in judicio, sondern in jure. Das Urtheilen in dem Sinne, das Recht im einzelnen Falle zu erkennen und auszusprechen, ist gar nicht nothwendig eine obrigkeitliche Function, noch die Ausübung einer statlichen Gewalt oder Macht. Zu Rom waren es gewöhnlich Privatpersonen, welche als Urtheiler (ju- dices) das Recht aussprachen; im deutschen Mittelalter hatten die Schöffen, nicht die Richter, in neuerer Zeit haben oft die Geschworenen aus dem Volke, nicht die Magistrate zu urthei- len. Das Richten dagegen, d. h. die Gewährung des Rechts- schutzes, und die Handhabung des Rechts gegen die Störungen und Verletzungen der Rechte der Individuen und der gemeinen Rechtsordnung ist von jeher als eine obrigkeitliche Thätig- keit angesehen, und daher überall richterlichen Magistraten und Beamten als eine statliche Gewalt zugetheilt worden. Sie unterscheidet sich von der Regierungsgewalt wesent- lich dadurch, dasz sie nicht wie diese Herrschaft übt, son- dern lediglich das erkannte und anerkannte Recht schirmt und anwendet. Sind die Functionen des Regi- ments denen der geistigen Kräfte im Menschen vergleich- bar, so sind die Functionen des Gerichts von wesentlich moralischer Natur.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/613>, abgerufen am 22.11.2024.