Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
den Absolutismus des Römerstates gebrochen und sie haben die spätere Statenbildung mit dem Geiste der persönlichen, genossenschaftlichen und ständischen Freiheit er- füllt. Montesquieu hat ein wahres Wort gesprochen, dasz in den deutschen Wäldern unter den alten noch uncivilisirten Germanen die Keime der spätern parlamentarischen Verfassung zu finden seien. In den uralten Formen des Zusammenwirkens der germanischen Volkskönige, mit den Gaufürsten und den andern Häuptlingen einerseits, und mit der groszen Gemeinde der freien Männer andrerseits, wie Tacitus uns das schildert, erkennen wir deutlich die noch rohen Anfänge des freien Re- präsentativstates, den die spätern Jahrhunderte hervorgebracht haben.
Der Germane leitet das Recht nicht ab, wenigstens zu- nächst nicht ab von dem Willen des Volks. Er nimmt für sich ein angeborenes Recht in Anspruch, welches der Stat wohl zu schützen berufen ist, aber nicht schafft, und er ver- ficht sein natürliches Recht wider alle Welt, selbst gegen die Obrigkeit. Den antiken Gedanken, dasz der Stat Alles in Allem sei, verwirft er mit Eifer. Das ganze Verhältniss wird umgedreht. Dem Germanen ist die individuelle Freiheit das Höchste; dann erst hintendrein läszt er sich herbei, einen Theil derselben dem State zu opfern, um das Uebrige desto sicherer zu wahren.
Eine nothwendige Folge dieses Charakters ist es, dasz die germanische Statsidee viel entschiedener als die römische die Selbständigkeit des Privatrechts achten musz. Die Freiheit der Person, der Familie, der genossenschaftlichen Ver- bände ist damit gesicherter und ausgedehnter als in dem alten Römerreich. Das Statsrecht musz sich die Beschränkung auch durch das Privatrecht gefallen lassen.
Eine zweite öffentlich-rechtliche Folge ist, dasz die ger- manischen Völker überhaupt keine absolute Statsgewalt, auch nicht in den gemeinsamen Angelegenheiten kennen und
Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
den Absolutismus des Römerstates gebrochen und sie haben die spätere Statenbildung mit dem Geiste der persönlichen, genossenschaftlichen und ständischen Freiheit er- füllt. Montesquieu hat ein wahres Wort gesprochen, dasz in den deutschen Wäldern unter den alten noch uncivilisirten Germanen die Keime der spätern parlamentarischen Verfassung zu finden seien. In den uralten Formen des Zusammenwirkens der germanischen Volkskönige, mit den Gaufürsten und den andern Häuptlingen einerseits, und mit der groszen Gemeinde der freien Männer andrerseits, wie Tacitus uns das schildert, erkennen wir deutlich die noch rohen Anfänge des freien Re- präsentativstates, den die spätern Jahrhunderte hervorgebracht haben.
Der Germane leitet das Recht nicht ab, wenigstens zu- nächst nicht ab von dem Willen des Volks. Er nimmt für sich ein angeborenes Recht in Anspruch, welches der Stat wohl zu schützen berufen ist, aber nicht schafft, und er ver- ficht sein natürliches Recht wider alle Welt, selbst gegen die Obrigkeit. Den antiken Gedanken, dasz der Stat Alles in Allem sei, verwirft er mit Eifer. Das ganze Verhältniss wird umgedreht. Dem Germanen ist die individuelle Freiheit das Höchste; dann erst hintendrein läszt er sich herbei, einen Theil derselben dem State zu opfern, um das Uebrige desto sicherer zu wahren.
Eine nothwendige Folge dieses Charakters ist es, dasz die germanische Statsidee viel entschiedener als die römische die Selbständigkeit des Privatrechts achten musz. Die Freiheit der Person, der Familie, der genossenschaftlichen Ver- bände ist damit gesicherter und ausgedehnter als in dem alten Römerreich. Das Statsrecht musz sich die Beschränkung auch durch das Privatrecht gefallen lassen.
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Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
den Absolutismus des Römerstates gebrochen und sie haben
die spätere Statenbildung mit dem Geiste der persönlichen,
genossenschaftlichen und ständischen Freiheit er-
füllt. Montesquieu hat ein wahres Wort gesprochen, dasz in
den deutschen Wäldern unter den alten noch uncivilisirten
Germanen die Keime der spätern parlamentarischen Verfassung
zu finden seien. In den uralten Formen des Zusammenwirkens
der germanischen Volkskönige, mit den Gaufürsten und den
andern Häuptlingen einerseits, und mit der groszen Gemeinde
der freien Männer andrerseits, wie Tacitus uns das schildert,
erkennen wir deutlich die noch rohen Anfänge des freien Re-
präsentativstates, den die spätern Jahrhunderte hervorgebracht
haben.
Der Germane leitet das Recht nicht ab, wenigstens zu-
nächst nicht ab von dem Willen des Volks. Er nimmt für
sich ein angeborenes Recht in Anspruch, welches der Stat
wohl zu schützen berufen ist, aber nicht schafft, und er ver-
ficht sein natürliches Recht wider alle Welt, selbst gegen die
Obrigkeit. Den antiken Gedanken, dasz der Stat Alles in
Allem sei, verwirft er mit Eifer. Das ganze Verhältniss wird
umgedreht. Dem Germanen ist die individuelle Freiheit
das Höchste; dann erst hintendrein läszt er sich herbei, einen
Theil derselben dem State zu opfern, um das Uebrige desto
sicherer zu wahren.
Eine nothwendige Folge dieses Charakters ist es, dasz die
germanische Statsidee viel entschiedener als die römische die
Selbständigkeit des Privatrechts achten musz. Die
Freiheit der Person, der Familie, der genossenschaftlichen Ver-
bände ist damit gesicherter und ausgedehnter als in dem alten
Römerreich. Das Statsrecht musz sich die Beschränkung auch
durch das Privatrecht gefallen lassen.
Eine zweite öffentlich-rechtliche Folge ist, dasz die ger-
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/63>, abgerufen am 24.11.2024.
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