Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
Römerreich und eine ideale Verbindung der mittelalterlichen Ideen und Institutionen mit der antiken Welt.
Dazu kam nun die Wiederfindung des altrömischen kai- serlichen Gesetzbuchs, des Corpus Juris Romani, welches seit dem XII. Jahrhundert auf den italienischen Universitäten ausgelegt und wie eine Offenbarung des universellen Men- schenrechts verehrt wurde. Von Italien her breitete sich diese Autorität erobernd aus über ganz Westeuropa, schon seit dem XIII. Jahrhundert in Frankreich und mit gröszerem Erfolge noch seit dem XV. Jahrhundert in Deutschland. Allerdings hatten die gelehrten Juristen dabei eher das Privatrecht und etwa noch das Strafrecht vor Augen, als das Statsrecht. Aber manche Grundansichten vom State, seiner Gesetzgebung, der souveränen Statsgewalt, welche von den Römern ausgesprochen waren, wurden doch auf diesem Wege vermittelt und gingen in den Vorstellungskreis der Studirten über.
Auch Erinnerungen an die alte römische Republik und ihre Herrlichkeit tauchten zuweilen auf und begeisterten die Bürger der Städte in dem Streben, neue Städterepubliken zu gründen. Schon der Name der städtischen Rathsherren in Italien und in Deutschland ist eine freilich unklare Erin- nerung an die Consuln der römischen Republik. Zweimal unternahm es die Bürgerschaft von Rom im Mittelalter in romantischer Begeisterung die längst verstorbene Römerrepu- blik wieder aufzuerwecken und neuerdings ins Leben zu rufen; das einemal unter der Führung von Arnold von Brescia im XII. Jahrhundert, das anderemal unter dem Tribunen Cola Rienzi im XIV. Jahrhundert. Beide Ver- suche freilich scheiterten an der politischen Unfähigkeit der mittelalterlichen Römer, aber beide zeugen für die Macht der antiken Ueberlieferung.
Sogar die griechische Statslehre war dem romanischen Mittelalter nicht völlig unbekannt. Die Politik des Aristo-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 4
Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
Römerreich und eine ideale Verbindung der mittelalterlichen Ideen und Institutionen mit der antiken Welt.
Dazu kam nun die Wiederfindung des altrömischen kai- serlichen Gesetzbuchs, des Corpus Juris Romani, welches seit dem XII. Jahrhundert auf den italienischen Universitäten ausgelegt und wie eine Offenbarung des universellen Men- schenrechts verehrt wurde. Von Italien her breitete sich diese Autorität erobernd aus über ganz Westeuropa, schon seit dem XIII. Jahrhundert in Frankreich und mit gröszerem Erfolge noch seit dem XV. Jahrhundert in Deutschland. Allerdings hatten die gelehrten Juristen dabei eher das Privatrecht und etwa noch das Strafrecht vor Augen, als das Statsrecht. Aber manche Grundansichten vom State, seiner Gesetzgebung, der souveränen Statsgewalt, welche von den Römern ausgesprochen waren, wurden doch auf diesem Wege vermittelt und gingen in den Vorstellungskreis der Studirten über.
Auch Erinnerungen an die alte römische Republik und ihre Herrlichkeit tauchten zuweilen auf und begeisterten die Bürger der Städte in dem Streben, neue Städterepubliken zu gründen. Schon der Name der städtischen Rathsherren in Italien und in Deutschland ist eine freilich unklare Erin- nerung an die Consuln der römischen Republik. Zweimal unternahm es die Bürgerschaft von Rom im Mittelalter in romantischer Begeisterung die längst verstorbene Römerrepu- blik wieder aufzuerwecken und neuerdings ins Leben zu rufen; das einemal unter der Führung von Arnold von Brescia im XII. Jahrhundert, das anderemal unter dem Tribunen Cola Rienzi im XIV. Jahrhundert. Beide Ver- suche freilich scheiterten an der politischen Unfähigkeit der mittelalterlichen Römer, aber beide zeugen für die Macht der antiken Ueberlieferung.
Sogar die griechische Statslehre war dem romanischen Mittelalter nicht völlig unbekannt. Die Politik des Aristo-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 4
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Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
Römerreich und eine ideale Verbindung der mittelalterlichen
Ideen und Institutionen mit der antiken Welt.
Dazu kam nun die Wiederfindung des altrömischen kai-
serlichen Gesetzbuchs, des Corpus Juris Romani, welches
seit dem XII. Jahrhundert auf den italienischen Universitäten
ausgelegt und wie eine Offenbarung des universellen Men-
schenrechts verehrt wurde. Von Italien her breitete sich
diese Autorität erobernd aus über ganz Westeuropa, schon
seit dem XIII. Jahrhundert in Frankreich und mit gröszerem
Erfolge noch seit dem XV. Jahrhundert in Deutschland.
Allerdings hatten die gelehrten Juristen dabei eher das
Privatrecht und etwa noch das Strafrecht vor Augen, als das
Statsrecht. Aber manche Grundansichten vom State, seiner
Gesetzgebung, der souveränen Statsgewalt, welche von den
Römern ausgesprochen waren, wurden doch auf diesem Wege
vermittelt und gingen in den Vorstellungskreis der Studirten
über.
Auch Erinnerungen an die alte römische Republik
und ihre Herrlichkeit tauchten zuweilen auf und begeisterten
die Bürger der Städte in dem Streben, neue Städterepubliken
zu gründen. Schon der Name der städtischen Rathsherren
in Italien und in Deutschland ist eine freilich unklare Erin-
nerung an die Consuln der römischen Republik. Zweimal
unternahm es die Bürgerschaft von Rom im Mittelalter in
romantischer Begeisterung die längst verstorbene Römerrepu-
blik wieder aufzuerwecken und neuerdings ins Leben zu
rufen; das einemal unter der Führung von Arnold von
Brescia im XII. Jahrhundert, das anderemal unter dem
Tribunen Cola Rienzi im XIV. Jahrhundert. Beide Ver-
suche freilich scheiterten an der politischen Unfähigkeit der
mittelalterlichen Römer, aber beide zeugen für die Macht
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/67>, abgerufen am 25.11.2024.
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