Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
muszten sich diese ältern Doctrinen doch eine Umbildung gefallen lassen theils durch die entschiedene Betonung des öffentlich-rechtlichen Souveränetätsbegriffs, theils durch die unabweisbare Rücksicht auf das öffentliche Wohl.
Der Stat erschien dann als das Reich der Herrschaft von Oben und die Obrigkeit wurde geradezu mit dem State selber identificirt. "Die Obrigkeit ist der Stat" (das l'etat c'est moi Ludwigs XIV.). Das war der Grund- gedanke dieser absolutistischen Statslehre, welche durch Bo- din und Hobbes vorbereitet vorzugsweise von dem Eng- länder Filmer und dem Franzosen Bossuet theologisch ausgebildet und in hunderterlei Variationen der Schuldoctrin dargestellt wurde. Bei dieser einseitigen Beachtung der obrig- keitlichen Gewalt wurde natürlich das Recht und die Freiheit der Regierten gänzlich verdunkelt. Wie die römisch-katho- lische Kirche ihr Wesen nur in dem Klerus, zuoberst in dem Papste dargestellt hat, und die Laien wie eine Heerde Schafe betrachtete, welche von den geistlichen Hirten zu führen und zu scheeren sei, so hatten in dieser Statslehre nur der Fürst und die obrigkeitlichen Beamten einen Werth und wurden die Unterthanen nur als eine passive Masse angesehen, welche von oben her verwaltet und regiert werden müsse, aber keinen Anspruch auf Selbstverwaltung, noch auf Mitregierung, noch auf Controle der obrigkeitlichen Führung habe.
4. Der Stat als Rechtsstat. Offenbar war es zunächst eine Verengung sowohl des naturrechtlichen als des obrigkeit- lichen Statsbegriffs, wenn Kant und Wilhelm von Hum- boldt den Stat für einen Rechsstat in dem Sinne erklär- ten, dasz seine einzige Aufgabe die Gewährung der Rechts- sicherheit für Jedermann sei. Zwar durchbrach Fichte diese engen Grenzen, indem er den Stat zugleich als Wirthschaft- stat schilderte und ihm hier eine übermächtige Gewalt ein- räumte und gegen das Ende seines Lebens von der nationalen Erhebung für deutsche Freiheit begeistert, dem Stat noch
Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
muszten sich diese ältern Doctrinen doch eine Umbildung gefallen lassen theils durch die entschiedene Betonung des öffentlich-rechtlichen Souveränetätsbegriffs, theils durch die unabweisbare Rücksicht auf das öffentliche Wohl.
Der Stat erschien dann als das Reich der Herrschaft von Oben und die Obrigkeit wurde geradezu mit dem State selber identificirt. „Die Obrigkeit ist der Stat“ (das l'état c'est moi Ludwigs XIV.). Das war der Grund- gedanke dieser absolutistischen Statslehre, welche durch Bo- din und Hobbes vorbereitet vorzugsweise von dem Eng- länder Filmer und dem Franzosen Bossuet theologisch ausgebildet und in hunderterlei Variationen der Schuldoctrin dargestellt wurde. Bei dieser einseitigen Beachtung der obrig- keitlichen Gewalt wurde natürlich das Recht und die Freiheit der Regierten gänzlich verdunkelt. Wie die römisch-katho- lische Kirche ihr Wesen nur in dem Klerus, zuoberst in dem Papste dargestellt hat, und die Laien wie eine Heerde Schafe betrachtete, welche von den geistlichen Hirten zu führen und zu scheeren sei, so hatten in dieser Statslehre nur der Fürst und die obrigkeitlichen Beamten einen Werth und wurden die Unterthanen nur als eine passive Masse angesehen, welche von oben her verwaltet und regiert werden müsse, aber keinen Anspruch auf Selbstverwaltung, noch auf Mitregierung, noch auf Controle der obrigkeitlichen Führung habe.
4. Der Stat als Rechtsstat. Offenbar war es zunächst eine Verengung sowohl des naturrechtlichen als des obrigkeit- lichen Statsbegriffs, wenn Kant und Wilhelm von Hum- boldt den Stat für einen Rechsstat in dem Sinne erklär- ten, dasz seine einzige Aufgabe die Gewährung der Rechts- sicherheit für Jedermann sei. Zwar durchbrach Fichte diese engen Grenzen, indem er den Stat zugleich als Wirthschaft- stat schilderte und ihm hier eine übermächtige Gewalt ein- räumte und gegen das Ende seines Lebens von der nationalen Erhebung für deutsche Freiheit begeistert, dem Stat noch
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Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
muszten sich diese ältern Doctrinen doch eine Umbildung
gefallen lassen theils durch die entschiedene Betonung des
öffentlich-rechtlichen Souveränetätsbegriffs, theils durch die
unabweisbare Rücksicht auf das öffentliche Wohl.
Der Stat erschien dann als das Reich der Herrschaft
von Oben und die Obrigkeit wurde geradezu mit dem
State selber identificirt. „Die Obrigkeit ist der Stat“
(das l'état c'est moi Ludwigs XIV.). Das war der Grund-
gedanke dieser absolutistischen Statslehre, welche durch Bo-
din und Hobbes vorbereitet vorzugsweise von dem Eng-
länder Filmer und dem Franzosen Bossuet theologisch
ausgebildet und in hunderterlei Variationen der Schuldoctrin
dargestellt wurde. Bei dieser einseitigen Beachtung der obrig-
keitlichen Gewalt wurde natürlich das Recht und die Freiheit
der Regierten gänzlich verdunkelt. Wie die römisch-katho-
lische Kirche ihr Wesen nur in dem Klerus, zuoberst in dem
Papste dargestellt hat, und die Laien wie eine Heerde Schafe
betrachtete, welche von den geistlichen Hirten zu führen und
zu scheeren sei, so hatten in dieser Statslehre nur der Fürst
und die obrigkeitlichen Beamten einen Werth und wurden die
Unterthanen nur als eine passive Masse angesehen, welche
von oben her verwaltet und regiert werden müsse, aber keinen
Anspruch auf Selbstverwaltung, noch auf Mitregierung, noch
auf Controle der obrigkeitlichen Führung habe.
4. Der Stat als Rechtsstat. Offenbar war es zunächst
eine Verengung sowohl des naturrechtlichen als des obrigkeit-
lichen Statsbegriffs, wenn Kant und Wilhelm von Hum-
boldt den Stat für einen Rechsstat in dem Sinne erklär-
ten, dasz seine einzige Aufgabe die Gewährung der Rechts-
sicherheit für Jedermann sei. Zwar durchbrach Fichte diese
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stat schilderte und ihm hier eine übermächtige Gewalt ein-
räumte und gegen das Ende seines Lebens von der nationalen
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/91>, abgerufen am 27.11.2024.
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