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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Zweites Buch.

In den Statenbünden tritt die Souveränetät der Einzelstaten voller und ent-
schiedener hervor, als in den Bundesstaten. Deßhalb wird in der Regel auch der
Gesantschaftsverkehr vorzugsweise mit den Einzelstaten gepflogen. Aber weil doch
der Statenverband wieder ein Interesse hat, sich als völkerrechtliches Ganzes darzu-
stellen, so muß auch ihm die Befugniß gewahrt werden, gemeinsame Bundesgesante
zu bezeichnen und bei sich fremde Gesante zu empfangen. Bei dem deutschen
Bunde
waren manche fremde Gesante accreditirt und in einzelnen Fällen ließ er
sich durch einen gemeinsamen Bundesgesanten auswärts vertreten.

74.

Wenn zwei oder mehrere Staten durch dasselbe Statshaupt nur
vorübergehend geeinigt sind, so werden sie im Völkerrecht als zwei verschiedene
Personen behandelt und haben demgemäß auf Conferenzen und Congressen
zwei oder mehrere Stimmen und können durch verschiedene Gesante ver-
treten werden.

Beispiele treten ein, wenn ein Erbfürst in einem andern Lande auf Lebens-
zeit zum Wahlfürst gewählt wird. Karl V. war als römischer Kaiser und deut-
sches Reichsoberhaupt Vertreter des deutschen Reiches und als König von Spanien
Vertreter Spaniens, ohne daß irgend eine nähere stats- oder völkerrechtliche Bezie-
hung dieser beiden Staten zu einander eintrat.

75.

Ist aber die Einigung unter Einem Statshaupt eine dauernde und
erscheint die Verbindung der so geeinigten Staten als eine politische, wenn
auch noch nicht als eine statsrechtlich organisirte Lebensgemeinschaft, so wird
dieselbe völkerrechtlich wie ein Gesammtstat betrachtet und in einer gemein-
samen Vertretung durch Eine Stimme dargestellt. Soweit indessen die
Verhältnisse der einzelnen verbundenen Staten besonders hervortreten, ist
hinwieder eine besondere Vertretung zulässig.

Von der Art sind die fortdauernden Personalunionen durch dieselbe fürstliche
Dynastie. Frühere Beispiele sind die ursprüngliche Personalunion des Erzherzog-
thums Oesterreich
mit der Böhmischen und der Ungarischen Krone, auch
die anfängliche Verbindung der Englischen mit der Schottischen und mit der
Irischen Krone, das heutige Verhältniß der Königreiche Schweden und Nor-
wegen
. Siehe oben zu § 70.

76.

Wenn die Souveränetät eines States abgeleitet erscheint von der
Souveränetät eines andern Hauptstates und in Anerkennung und in Folge
dieser Ableitung eine theilweise Unterordnung jenes States unter diesen

Zweites Buch.

In den Statenbünden tritt die Souveränetät der Einzelſtaten voller und ent-
ſchiedener hervor, als in den Bundesſtaten. Deßhalb wird in der Regel auch der
Geſantſchaftsverkehr vorzugsweiſe mit den Einzelſtaten gepflogen. Aber weil doch
der Statenverband wieder ein Intereſſe hat, ſich als völkerrechtliches Ganzes darzu-
ſtellen, ſo muß auch ihm die Befugniß gewahrt werden, gemeinſame Bundesgeſante
zu bezeichnen und bei ſich fremde Geſante zu empfangen. Bei dem deutſchen
Bunde
waren manche fremde Geſante accreditirt und in einzelnen Fällen ließ er
ſich durch einen gemeinſamen Bundesgeſanten auswärts vertreten.

74.

Wenn zwei oder mehrere Staten durch dasſelbe Statshaupt nur
vorübergehend geeinigt ſind, ſo werden ſie im Völkerrecht als zwei verſchiedene
Perſonen behandelt und haben demgemäß auf Conferenzen und Congreſſen
zwei oder mehrere Stimmen und können durch verſchiedene Geſante ver-
treten werden.

Beiſpiele treten ein, wenn ein Erbfürſt in einem andern Lande auf Lebens-
zeit zum Wahlfürſt gewählt wird. Karl V. war als römiſcher Kaiſer und deut-
ſches Reichsoberhaupt Vertreter des deutſchen Reiches und als König von Spanien
Vertreter Spaniens, ohne daß irgend eine nähere ſtats- oder völkerrechtliche Bezie-
hung dieſer beiden Staten zu einander eintrat.

75.

Iſt aber die Einigung unter Einem Statshaupt eine dauernde und
erſcheint die Verbindung der ſo geeinigten Staten als eine politiſche, wenn
auch noch nicht als eine ſtatsrechtlich organiſirte Lebensgemeinſchaft, ſo wird
dieſelbe völkerrechtlich wie ein Geſammtſtat betrachtet und in einer gemein-
ſamen Vertretung durch Eine Stimme dargeſtellt. Soweit indeſſen die
Verhältniſſe der einzelnen verbundenen Staten beſonders hervortreten, iſt
hinwieder eine beſondere Vertretung zuläſſig.

Von der Art ſind die fortdauernden Perſonalunionen durch dieſelbe fürſtliche
Dynaſtie. Frühere Beiſpiele ſind die urſprüngliche Perſonalunion des Erzherzog-
thums Oeſterreich
mit der Böhmiſchen und der Ungariſchen Krone, auch
die anfängliche Verbindung der Engliſchen mit der Schottiſchen und mit der
Iriſchen Krone, das heutige Verhältniß der Königreiche Schweden und Nor-
wegen
. Siehe oben zu § 70.

76.

Wenn die Souveränetät eines States abgeleitet erſcheint von der
Souveränetät eines andern Hauptſtates und in Anerkennung und in Folge
dieſer Ableitung eine theilweiſe Unterordnung jenes States unter dieſen

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[88/0110] Zweites Buch. In den Statenbünden tritt die Souveränetät der Einzelſtaten voller und ent- ſchiedener hervor, als in den Bundesſtaten. Deßhalb wird in der Regel auch der Geſantſchaftsverkehr vorzugsweiſe mit den Einzelſtaten gepflogen. Aber weil doch der Statenverband wieder ein Intereſſe hat, ſich als völkerrechtliches Ganzes darzu- ſtellen, ſo muß auch ihm die Befugniß gewahrt werden, gemeinſame Bundesgeſante zu bezeichnen und bei ſich fremde Geſante zu empfangen. Bei dem deutſchen Bunde waren manche fremde Geſante accreditirt und in einzelnen Fällen ließ er ſich durch einen gemeinſamen Bundesgeſanten auswärts vertreten. 74. Wenn zwei oder mehrere Staten durch dasſelbe Statshaupt nur vorübergehend geeinigt ſind, ſo werden ſie im Völkerrecht als zwei verſchiedene Perſonen behandelt und haben demgemäß auf Conferenzen und Congreſſen zwei oder mehrere Stimmen und können durch verſchiedene Geſante ver- treten werden. Beiſpiele treten ein, wenn ein Erbfürſt in einem andern Lande auf Lebens- zeit zum Wahlfürſt gewählt wird. Karl V. war als römiſcher Kaiſer und deut- ſches Reichsoberhaupt Vertreter des deutſchen Reiches und als König von Spanien Vertreter Spaniens, ohne daß irgend eine nähere ſtats- oder völkerrechtliche Bezie- hung dieſer beiden Staten zu einander eintrat. 75. Iſt aber die Einigung unter Einem Statshaupt eine dauernde und erſcheint die Verbindung der ſo geeinigten Staten als eine politiſche, wenn auch noch nicht als eine ſtatsrechtlich organiſirte Lebensgemeinſchaft, ſo wird dieſelbe völkerrechtlich wie ein Geſammtſtat betrachtet und in einer gemein- ſamen Vertretung durch Eine Stimme dargeſtellt. Soweit indeſſen die Verhältniſſe der einzelnen verbundenen Staten beſonders hervortreten, iſt hinwieder eine beſondere Vertretung zuläſſig. Von der Art ſind die fortdauernden Perſonalunionen durch dieſelbe fürſtliche Dynaſtie. Frühere Beiſpiele ſind die urſprüngliche Perſonalunion des Erzherzog- thums Oeſterreich mit der Böhmiſchen und der Ungariſchen Krone, auch die anfängliche Verbindung der Engliſchen mit der Schottiſchen und mit der Iriſchen Krone, das heutige Verhältniß der Königreiche Schweden und Nor- wegen. Siehe oben zu § 70. 76. Wenn die Souveränetät eines States abgeleitet erſcheint von der Souveränetät eines andern Hauptſtates und in Anerkennung und in Folge dieſer Ableitung eine theilweiſe Unterordnung jenes States unter dieſen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/110>, abgerufen am 28.11.2024.