Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch.
stand Rußland, der Stifter der heiligen Allianz, ganz isolirt, nicht bloß den feind-
lichen Westmächten England und Frankreich, sondern ebenso dem übelwollenden
Oesterreich und dem neutralen Preußen gegenüber; von der versprochenen wechsel-
seitigen "assistance aide et secours" (Art. 1 des Vertrags) war Nichts mehr zu
verspüren.

3. Pentarchie.
103.

Der in Aachen 1818 befestigte Verband der fünf europäischen Groß-
staten England, Frankreich, Oesterreich, Preußen und Rußland bedeutet
nicht einen festen völkerrechtlichen Senat für Europa, sondern nur, daß
diese Staten zur Zeit die Macht haben und es als gemeinsame Aufgabe
erkennen, bei der Regulirung der europäischen Angelegenheiten mitzuwirken.

Die Wiener Congreßacte wurde außer den genannten Staten auch von
Spanien und Portugal und dem Könige von Schweden und Norwegen
unterzeichnet. Aber man gewöhnte sich, besonders seit dem Congreß von Aachen,
auf welchem Frankreich vollends wieder in die "brüderliche" Gemeinschaft der alliirten
Mächte aufgenommen ward, jene fünf mächtigsten Staten als europäische Pentarchie zu
betrachten. Die fünf Mächte besaßen über zwei Drittheile des europäischen Bodens
und umfaßten beinahe drei Viertheile der europäischen Gesammtbevölkerung. In der
militärischen Macht waren sie den übrigen europäischen Staten noch mehr überlegen.
Dennoch war diese Vereinigung nur ein unvollständiges Bild der wirklichen Zustände
von Europa. Die romanischen Staten waren im Verhältniß zu den germanischen
zu wenig, die mittleren und kleineren Staten gar nicht berücksichtigt. Wenn aber
ein Stat berechtigt erscheint zu existiren, so kann ihm das Recht nicht abgesprochen
werden, in der Versammlung der Statengenossenschaft auch eine Stimme zu haben
und sei es unmittelbar sei es mittelbar vertreten zu sein. Die sogenannte Pentarchie
mag als Anfang einer Organisation Europas, aber sie kann nicht als ihre Vollen-
dung betrachtet werden.

104.

Die Zahl der europäischen Großstaten ist nicht abgeschlossen. Es
können neue hinzutreten, indem sie stark und so activ werden, daß ihre
Mitwirkung in den europäischen Angelegenheiten ohne allgemeine Gefahr
nicht zu entbehren ist. Es können auch bisherige Großstaten so schwach
werden, daß es ungefährlich und unnöthig erscheint, dieselben weiter bei-
zuziehen, wenn unter den Großstaten über die europäischen Angelegenheiten
verhandelt wird.

Zweites Buch.
ſtand Rußland, der Stifter der heiligen Allianz, ganz iſolirt, nicht bloß den feind-
lichen Weſtmächten England und Frankreich, ſondern ebenſo dem übelwollenden
Oeſterreich und dem neutralen Preußen gegenüber; von der verſprochenen wechſel-
ſeitigen „assistance aide et secours“ (Art. 1 des Vertrags) war Nichts mehr zu
verſpüren.

3. Pentarchie.
103.

Der in Aachen 1818 befeſtigte Verband der fünf europäiſchen Groß-
ſtaten England, Frankreich, Oeſterreich, Preußen und Rußland bedeutet
nicht einen feſten völkerrechtlichen Senat für Europa, ſondern nur, daß
dieſe Staten zur Zeit die Macht haben und es als gemeinſame Aufgabe
erkennen, bei der Regulirung der europäiſchen Angelegenheiten mitzuwirken.

Die Wiener Congreßacte wurde außer den genannten Staten auch von
Spanien und Portugal und dem Könige von Schweden und Norwegen
unterzeichnet. Aber man gewöhnte ſich, beſonders ſeit dem Congreß von Aachen,
auf welchem Frankreich vollends wieder in die „brüderliche“ Gemeinſchaft der alliirten
Mächte aufgenommen ward, jene fünf mächtigſten Staten als europäiſche Pentarchie zu
betrachten. Die fünf Mächte beſaßen über zwei Drittheile des europäiſchen Bodens
und umfaßten beinahe drei Viertheile der europäiſchen Geſammtbevölkerung. In der
militäriſchen Macht waren ſie den übrigen europäiſchen Staten noch mehr überlegen.
Dennoch war dieſe Vereinigung nur ein unvollſtändiges Bild der wirklichen Zuſtände
von Europa. Die romaniſchen Staten waren im Verhältniß zu den germaniſchen
zu wenig, die mittleren und kleineren Staten gar nicht berückſichtigt. Wenn aber
ein Stat berechtigt erſcheint zu exiſtiren, ſo kann ihm das Recht nicht abgeſprochen
werden, in der Verſammlung der Statengenoſſenſchaft auch eine Stimme zu haben
und ſei es unmittelbar ſei es mittelbar vertreten zu ſein. Die ſogenannte Pentarchie
mag als Anfang einer Organiſation Europas, aber ſie kann nicht als ihre Vollen-
dung betrachtet werden.

104.

Die Zahl der europäiſchen Großſtaten iſt nicht abgeſchloſſen. Es
können neue hinzutreten, indem ſie ſtark und ſo activ werden, daß ihre
Mitwirkung in den europäiſchen Angelegenheiten ohne allgemeine Gefahr
nicht zu entbehren iſt. Es können auch bisherige Großſtaten ſo ſchwach
werden, daß es ungefährlich und unnöthig erſcheint, dieſelben weiter bei-
zuziehen, wenn unter den Großſtaten über die europäiſchen Angelegenheiten
verhandelt wird.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0122" n="100"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch.</fw><lb/>
&#x017F;tand Rußland, der Stifter der heiligen Allianz, ganz i&#x017F;olirt, nicht bloß den feind-<lb/>
lichen We&#x017F;tmächten England und Frankreich, &#x017F;ondern eben&#x017F;o dem übelwollenden<lb/>
Oe&#x017F;terreich und dem neutralen Preußen gegenüber; von der ver&#x017F;prochenen wech&#x017F;el-<lb/>
&#x017F;eitigen <hi rendition="#aq">&#x201E;assistance aide et secours&#x201C;</hi> (Art. 1 des Vertrags) war Nichts mehr zu<lb/>
ver&#x017F;püren.</p>
              </div>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>3. <hi rendition="#g">Pentarchie</hi>.</head><lb/>
              <div n="5">
                <head>103.</head><lb/>
                <p>Der in Aachen 1818 befe&#x017F;tigte Verband der fünf europäi&#x017F;chen Groß-<lb/>
&#x017F;taten England, Frankreich, Oe&#x017F;terreich, Preußen und Rußland bedeutet<lb/>
nicht einen fe&#x017F;ten völkerrechtlichen Senat für Europa, &#x017F;ondern nur, daß<lb/>
die&#x017F;e Staten zur Zeit die Macht haben und es als gemein&#x017F;ame Aufgabe<lb/>
erkennen, bei der Regulirung der europäi&#x017F;chen Angelegenheiten mitzuwirken.</p><lb/>
                <p>Die Wiener Congreßacte wurde außer den genannten Staten auch von<lb/><hi rendition="#g">Spanien</hi> und <hi rendition="#g">Portugal</hi> und dem Könige von <hi rendition="#g">Schweden</hi> und <hi rendition="#g">Norwegen</hi><lb/>
unterzeichnet. Aber man gewöhnte &#x017F;ich, be&#x017F;onders &#x017F;eit dem Congreß von Aachen,<lb/>
auf welchem Frankreich vollends wieder in die &#x201E;brüderliche&#x201C; Gemein&#x017F;chaft der alliirten<lb/>
Mächte aufgenommen ward, jene fünf mächtig&#x017F;ten Staten als europäi&#x017F;che Pentarchie zu<lb/>
betrachten. Die fünf Mächte be&#x017F;aßen über zwei Drittheile des europäi&#x017F;chen Bodens<lb/>
und umfaßten beinahe drei Viertheile der europäi&#x017F;chen Ge&#x017F;ammtbevölkerung. In der<lb/>
militäri&#x017F;chen Macht waren &#x017F;ie den übrigen europäi&#x017F;chen Staten noch mehr überlegen.<lb/>
Dennoch war die&#x017F;e Vereinigung nur ein unvoll&#x017F;tändiges Bild der wirklichen Zu&#x017F;tände<lb/>
von Europa. Die romani&#x017F;chen Staten waren im Verhältniß zu den germani&#x017F;chen<lb/>
zu wenig, die mittleren und kleineren Staten gar nicht berück&#x017F;ichtigt. Wenn aber<lb/>
ein Stat berechtigt er&#x017F;cheint zu exi&#x017F;tiren, &#x017F;o kann ihm das Recht nicht abge&#x017F;prochen<lb/>
werden, in der Ver&#x017F;ammlung der Statengeno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft auch eine Stimme zu haben<lb/>
und &#x017F;ei es unmittelbar &#x017F;ei es mittelbar vertreten zu &#x017F;ein. Die &#x017F;ogenannte Pentarchie<lb/>
mag als Anfang einer Organi&#x017F;ation Europas, aber &#x017F;ie kann nicht als ihre Vollen-<lb/>
dung betrachtet werden.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>104.</head><lb/>
                <p>Die Zahl der europäi&#x017F;chen Groß&#x017F;taten i&#x017F;t nicht abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Es<lb/>
können neue hinzutreten, indem &#x017F;ie &#x017F;tark und &#x017F;o activ werden, daß ihre<lb/>
Mitwirkung in den europäi&#x017F;chen Angelegenheiten ohne allgemeine Gefahr<lb/>
nicht zu entbehren i&#x017F;t. Es können auch bisherige Groß&#x017F;taten &#x017F;o &#x017F;chwach<lb/>
werden, daß es ungefährlich und unnöthig er&#x017F;cheint, die&#x017F;elben weiter bei-<lb/>
zuziehen, wenn unter den Groß&#x017F;taten über die europäi&#x017F;chen Angelegenheiten<lb/>
verhandelt wird.</p><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0122] Zweites Buch. ſtand Rußland, der Stifter der heiligen Allianz, ganz iſolirt, nicht bloß den feind- lichen Weſtmächten England und Frankreich, ſondern ebenſo dem übelwollenden Oeſterreich und dem neutralen Preußen gegenüber; von der verſprochenen wechſel- ſeitigen „assistance aide et secours“ (Art. 1 des Vertrags) war Nichts mehr zu verſpüren. 3. Pentarchie. 103. Der in Aachen 1818 befeſtigte Verband der fünf europäiſchen Groß- ſtaten England, Frankreich, Oeſterreich, Preußen und Rußland bedeutet nicht einen feſten völkerrechtlichen Senat für Europa, ſondern nur, daß dieſe Staten zur Zeit die Macht haben und es als gemeinſame Aufgabe erkennen, bei der Regulirung der europäiſchen Angelegenheiten mitzuwirken. Die Wiener Congreßacte wurde außer den genannten Staten auch von Spanien und Portugal und dem Könige von Schweden und Norwegen unterzeichnet. Aber man gewöhnte ſich, beſonders ſeit dem Congreß von Aachen, auf welchem Frankreich vollends wieder in die „brüderliche“ Gemeinſchaft der alliirten Mächte aufgenommen ward, jene fünf mächtigſten Staten als europäiſche Pentarchie zu betrachten. Die fünf Mächte beſaßen über zwei Drittheile des europäiſchen Bodens und umfaßten beinahe drei Viertheile der europäiſchen Geſammtbevölkerung. In der militäriſchen Macht waren ſie den übrigen europäiſchen Staten noch mehr überlegen. Dennoch war dieſe Vereinigung nur ein unvollſtändiges Bild der wirklichen Zuſtände von Europa. Die romaniſchen Staten waren im Verhältniß zu den germaniſchen zu wenig, die mittleren und kleineren Staten gar nicht berückſichtigt. Wenn aber ein Stat berechtigt erſcheint zu exiſtiren, ſo kann ihm das Recht nicht abgeſprochen werden, in der Verſammlung der Statengenoſſenſchaft auch eine Stimme zu haben und ſei es unmittelbar ſei es mittelbar vertreten zu ſein. Die ſogenannte Pentarchie mag als Anfang einer Organiſation Europas, aber ſie kann nicht als ihre Vollen- dung betrachtet werden. 104. Die Zahl der europäiſchen Großſtaten iſt nicht abgeſchloſſen. Es können neue hinzutreten, indem ſie ſtark und ſo activ werden, daß ihre Mitwirkung in den europäiſchen Angelegenheiten ohne allgemeine Gefahr nicht zu entbehren iſt. Es können auch bisherige Großſtaten ſo ſchwach werden, daß es ungefährlich und unnöthig erſcheint, dieſelben weiter bei- zuziehen, wenn unter den Großſtaten über die europäiſchen Angelegenheiten verhandelt wird.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/122
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/122>, abgerufen am 27.11.2024.