Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
Gebiet sich statlich anzueignen, als er statlich zu ordnen und zu civilisiren die Macht hat, und diese Macht thatsächlich ausübt.
Der Rechtsgrund der Occupation liegt nur in der statlichen Natur und Be- stimmung des Menschengeschlechts. Indem ein Stat, wie das von England in Nordamerika und in Australien, von Spanien und Portugal in Südamerika und von den Niederlanden auf den Inseln des stillen Oceans geschehen ist seine angebliche Statsherrschaft über unermeßliche, unbewohnte, oder nur von Wilden bewohnte Länder erstreckt, die er in Wahrheit weder zu cultiviren noch statlich zu beherrschen die Macht hat, so wird jene statliche und Culturbestim- mung nicht erfüllt, sondern im Gegentheil ihrem Fortschritt ein Hemmniß ent- gegengestellt, indem andere Nationen verhindert werden, sich da anzusiedeln und andere Staten verhindert, sich daselbst civilisirend einzurichten. Nur die wahr- hafte und dauernde Besetzung ist als wirkliche Occupation zu betrach- ten, die bloße scheinbare Occupation kann höchstens den Schein des Rechts, nicht wirkliches Recht gewähren. Ein Stat verletzt daher das Völkerrecht nicht, wenn er sich einer Gegend bemächtigt, welche nur angeblich und scheinbar von einem andern Stat früher in Besitz genommen worden ist. Wenn auch darüber leicht Streit entstehen kann zwischen den beiden Staten, so ist das nur eine politische Rücksicht, die zu erwägen, nicht eine rechtliche Schranke, die zu beachten ist.
282.
Geschieht die Besitznahme von der Seeküste aus, so wird angenom- men, daß das hinter der Küste liegende Binnenland insoweit mitbesetzt sei, als es durch die Natur, insbesondere durch die ins Meer einmündenden Flüsse mit derselben zu einem natürlichen Ganzen verbunden ist.
Dieser Grundsatz wurde von den Vereinigten Staten in einer Verhand- lung mit Spanien über das Gebiet von Louisiana am besten ausgesprochen. (Vgl. PhillimoreI. 237.) Die europäischen Colonien gingen gewöhnlich von einem Seehafen der Küste aus, welcher dann als das eigentliche Centrum der ganzen Colonie und der Herrschaft über das Land angesehen wurde. Eine engere Beschrän- kung ist ebenso unpractisch, wie eine weitere Ausdehnung, jene weil die Civilisation und Statenbildung genöthigt ist, von da aus ihre Macht zu erstrecken und das Hin- terland und Flußgebiet genöthigt ist, auf diesem Wege in den Verkehr mit andern Nationen einzutreten, und diese, weil je größer die Entfernungen sind und je weiter die Länder sich im Innern erstrecken, auch der Zusammenhang mit der Küste schwä- cher wird und ganz neue selbständige Verhältnisse möglich sind. Der obige Grund- satz hat daher auch keine absolute, sondern nur eine relative Geltung. Wo große Ströme, wie der Missisippi, einen ganzen Continent durchfließen, kann aus dem Besitz der Mündung natürlich nicht die Herrschaft über das ganze Flußgebiet abgeleitet werden. In der alten Welt sehen wir oft, daß umgekehrt von den Quel-
Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
Gebiet ſich ſtatlich anzueignen, als er ſtatlich zu ordnen und zu civiliſiren die Macht hat, und dieſe Macht thatſächlich ausübt.
Der Rechtsgrund der Occupation liegt nur in der ſtatlichen Natur und Be- ſtimmung des Menſchengeſchlechts. Indem ein Stat, wie das von England in Nordamerika und in Auſtralien, von Spanien und Portugal in Südamerika und von den Niederlanden auf den Inſeln des ſtillen Oceans geſchehen iſt ſeine angebliche Statsherrſchaft über unermeßliche, unbewohnte, oder nur von Wilden bewohnte Länder erſtreckt, die er in Wahrheit weder zu cultiviren noch ſtatlich zu beherrſchen die Macht hat, ſo wird jene ſtatliche und Culturbeſtim- mung nicht erfüllt, ſondern im Gegentheil ihrem Fortſchritt ein Hemmniß ent- gegengeſtellt, indem andere Nationen verhindert werden, ſich da anzuſiedeln und andere Staten verhindert, ſich daſelbſt civiliſirend einzurichten. Nur die wahr- hafte und dauernde Beſetzung iſt als wirkliche Occupation zu betrach- ten, die bloße ſcheinbare Occupation kann höchſtens den Schein des Rechts, nicht wirkliches Recht gewähren. Ein Stat verletzt daher das Völkerrecht nicht, wenn er ſich einer Gegend bemächtigt, welche nur angeblich und ſcheinbar von einem andern Stat früher in Beſitz genommen worden iſt. Wenn auch darüber leicht Streit entſtehen kann zwiſchen den beiden Staten, ſo iſt das nur eine politiſche Rückſicht, die zu erwägen, nicht eine rechtliche Schranke, die zu beachten iſt.
282.
Geſchieht die Beſitznahme von der Seeküſte aus, ſo wird angenom- men, daß das hinter der Küſte liegende Binnenland inſoweit mitbeſetzt ſei, als es durch die Natur, insbeſondere durch die ins Meer einmündenden Flüſſe mit derſelben zu einem natürlichen Ganzen verbunden iſt.
Dieſer Grundſatz wurde von den Vereinigten Staten in einer Verhand- lung mit Spanien über das Gebiet von Louiſiana am beſten ausgeſprochen. (Vgl. PhillimoreI. 237.) Die europäiſchen Colonien gingen gewöhnlich von einem Seehafen der Küſte aus, welcher dann als das eigentliche Centrum der ganzen Colonie und der Herrſchaft über das Land angeſehen wurde. Eine engere Beſchrän- kung iſt ebenſo unpractiſch, wie eine weitere Ausdehnung, jene weil die Civiliſation und Statenbildung genöthigt iſt, von da aus ihre Macht zu erſtrecken und das Hin- terland und Flußgebiet genöthigt iſt, auf dieſem Wege in den Verkehr mit andern Nationen einzutreten, und dieſe, weil je größer die Entfernungen ſind und je weiter die Länder ſich im Innern erſtrecken, auch der Zuſammenhang mit der Küſte ſchwä- cher wird und ganz neue ſelbſtändige Verhältniſſe möglich ſind. Der obige Grund- ſatz hat daher auch keine abſolute, ſondern nur eine relative Geltung. Wo große Ströme, wie der Miſſiſippi, einen ganzen Continent durchfließen, kann aus dem Beſitz der Mündung natürlich nicht die Herrſchaft über das ganze Flußgebiet abgeleitet werden. In der alten Welt ſehen wir oft, daß umgekehrt von den Quel-
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
Gebiet ſich ſtatlich anzueignen, als er ſtatlich zu ordnen und zu civiliſiren
die Macht hat, und dieſe Macht thatſächlich ausübt.
Der Rechtsgrund der Occupation liegt nur in der ſtatlichen Natur und Be-
ſtimmung des Menſchengeſchlechts. Indem ein Stat, wie das von England in
Nordamerika und in Auſtralien, von Spanien und Portugal in Südamerika
und von den Niederlanden auf den Inſeln des ſtillen Oceans geſchehen iſt
ſeine angebliche Statsherrſchaft über unermeßliche, unbewohnte, oder nur
von Wilden bewohnte Länder erſtreckt, die er in Wahrheit weder zu cultiviren
noch ſtatlich zu beherrſchen die Macht hat, ſo wird jene ſtatliche und Culturbeſtim-
mung nicht erfüllt, ſondern im Gegentheil ihrem Fortſchritt ein Hemmniß ent-
gegengeſtellt, indem andere Nationen verhindert werden, ſich da anzuſiedeln und
andere Staten verhindert, ſich daſelbſt civiliſirend einzurichten. Nur die wahr-
hafte und dauernde Beſetzung iſt als wirkliche Occupation zu betrach-
ten, die bloße ſcheinbare Occupation kann höchſtens den Schein des Rechts, nicht
wirkliches Recht gewähren. Ein Stat verletzt daher das Völkerrecht nicht, wenn er ſich
einer Gegend bemächtigt, welche nur angeblich und ſcheinbar von einem andern Stat
früher in Beſitz genommen worden iſt. Wenn auch darüber leicht Streit entſtehen
kann zwiſchen den beiden Staten, ſo iſt das nur eine politiſche Rückſicht, die zu
erwägen, nicht eine rechtliche Schranke, die zu beachten iſt.
282.
Geſchieht die Beſitznahme von der Seeküſte aus, ſo wird angenom-
men, daß das hinter der Küſte liegende Binnenland inſoweit mitbeſetzt ſei,
als es durch die Natur, insbeſondere durch die ins Meer einmündenden
Flüſſe mit derſelben zu einem natürlichen Ganzen verbunden iſt.
Dieſer Grundſatz wurde von den Vereinigten Staten in einer Verhand-
lung mit Spanien über das Gebiet von Louiſiana am beſten ausgeſprochen. (Vgl.
Phillimore I. 237.) Die europäiſchen Colonien gingen gewöhnlich von einem
Seehafen der Küſte aus, welcher dann als das eigentliche Centrum der ganzen
Colonie und der Herrſchaft über das Land angeſehen wurde. Eine engere Beſchrän-
kung iſt ebenſo unpractiſch, wie eine weitere Ausdehnung, jene weil die Civiliſation
und Statenbildung genöthigt iſt, von da aus ihre Macht zu erſtrecken und das Hin-
terland und Flußgebiet genöthigt iſt, auf dieſem Wege in den Verkehr mit andern
Nationen einzutreten, und dieſe, weil je größer die Entfernungen ſind und je weiter
die Länder ſich im Innern erſtrecken, auch der Zuſammenhang mit der Küſte ſchwä-
cher wird und ganz neue ſelbſtändige Verhältniſſe möglich ſind. Der obige Grund-
ſatz hat daher auch keine abſolute, ſondern nur eine relative Geltung. Wo große
Ströme, wie der Miſſiſippi, einen ganzen Continent durchfließen, kann aus dem
Beſitz der Mündung natürlich nicht die Herrſchaft über das ganze Flußgebiet
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/189>, abgerufen am 21.11.2024.
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