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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Grundlage des Völkerrechts.

Wo immer Menschen mit Menschen verkehren und dauernde Be-
ziehungen anknüpfen, da regen sich in ihnen das Rechtsgefühl und der
Rechtssinn und verlangen eine gewisse Ordnung der nothwendigen Ver-
hältnisse und eine wechselseitige Achtung der daraus entspringenden Rechte.
Beide Eigenschaften der menschlichen Seele, das Rechtsgefühl und der
Rechtssinn, sind selbst unter barbarischen Stämmen deutlich wahrzunehmen,
aber nur bei civilisirten Völkern gelangen sie zu voller Ausbildung des
Bewußtseins und mit Hülfe öffentlicher Institutionen zu gesicherter Wirk-
samkeit. Sie können wohl gedrückt, aber nie ganz unterdrückt, wohl miß-
leitet, aber nicht zerstört werden. Immer wieder erheben sie sich, wenn
der Druck nachläßt, und besinnen sie sich, wenn die verwirrende Leiden-
schaft erlischt. Der Rechtssinn ist ohne Zweifel stärker in den Männern
als in den Frauen und jene sind bereiter als diese, ihr Recht gegen Jeder-
mann mit Gründen und im Rothfall mit den Waffen zu verfechten. Aber
an zähem und lebhaftem Rechtsgefühl stehen die Frauen den Männern
nicht nach. Sie ergeben sich eher der übermächtigen Gewalt, aber sie
empfinden und beklagen das Unrecht, das ihnen widerfährt, nicht deshalb
weniger, weil sie sich schwächer fühlen und weniger demselben widerstehen
können. Schon in den Kindern zeigt sich diese Anlage der Menschennatur
für die Rechtsbildung. Auch die Kinder haben ein scharfes Auge für die
Ungerechtigkeit, der sie in der Familie oder in der Schule ausgesetzt sind
und werden oft tief verletzt und verbittert, wenn sie glauben, parteiisch
behandelt zu werden.

Wenn es aber eine unbestreitbare Wahrheit ist, daß der Mensch von
Natur ein Rechtswesen und mit der Anlage zur Rechtsbildung ausgestattet
ist, dann muß auch das Völkerrecht in der Menschennatur seine un-
zerstörbare Wurzel und seine sichere Begründung haben. Völkerrecht heißt

Bluntschli, Das Völkerrecht. 1
Grundlage des Völkerrechts.

Wo immer Menſchen mit Menſchen verkehren und dauernde Be-
ziehungen anknüpfen, da regen ſich in ihnen das Rechtsgefühl und der
Rechtsſinn und verlangen eine gewiſſe Ordnung der nothwendigen Ver-
hältniſſe und eine wechſelſeitige Achtung der daraus entſpringenden Rechte.
Beide Eigenſchaften der menſchlichen Seele, das Rechtsgefühl und der
Rechtsſinn, ſind ſelbſt unter barbariſchen Stämmen deutlich wahrzunehmen,
aber nur bei civiliſirten Völkern gelangen ſie zu voller Ausbildung des
Bewußtſeins und mit Hülfe öffentlicher Inſtitutionen zu geſicherter Wirk-
ſamkeit. Sie können wohl gedrückt, aber nie ganz unterdrückt, wohl miß-
leitet, aber nicht zerſtört werden. Immer wieder erheben ſie ſich, wenn
der Druck nachläßt, und beſinnen ſie ſich, wenn die verwirrende Leiden-
ſchaft erliſcht. Der Rechtsſinn iſt ohne Zweifel ſtärker in den Männern
als in den Frauen und jene ſind bereiter als dieſe, ihr Recht gegen Jeder-
mann mit Gründen und im Rothfall mit den Waffen zu verfechten. Aber
an zähem und lebhaftem Rechtsgefühl ſtehen die Frauen den Männern
nicht nach. Sie ergeben ſich eher der übermächtigen Gewalt, aber ſie
empfinden und beklagen das Unrecht, das ihnen widerfährt, nicht deshalb
weniger, weil ſie ſich ſchwächer fühlen und weniger demſelben widerſtehen
können. Schon in den Kindern zeigt ſich dieſe Anlage der Menſchennatur
für die Rechtsbildung. Auch die Kinder haben ein ſcharfes Auge für die
Ungerechtigkeit, der ſie in der Familie oder in der Schule ausgeſetzt ſind
und werden oft tief verletzt und verbittert, wenn ſie glauben, parteiiſch
behandelt zu werden.

Wenn es aber eine unbeſtreitbare Wahrheit iſt, daß der Menſch von
Natur ein Rechtsweſen und mit der Anlage zur Rechtsbildung ausgeſtattet
iſt, dann muß auch das Völkerrecht in der Menſchennatur ſeine un-
zerſtörbare Wurzel und ſeine ſichere Begründung haben. Völkerrecht heißt

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[[1]/0023] Grundlage des Völkerrechts. Wo immer Menſchen mit Menſchen verkehren und dauernde Be- ziehungen anknüpfen, da regen ſich in ihnen das Rechtsgefühl und der Rechtsſinn und verlangen eine gewiſſe Ordnung der nothwendigen Ver- hältniſſe und eine wechſelſeitige Achtung der daraus entſpringenden Rechte. Beide Eigenſchaften der menſchlichen Seele, das Rechtsgefühl und der Rechtsſinn, ſind ſelbſt unter barbariſchen Stämmen deutlich wahrzunehmen, aber nur bei civiliſirten Völkern gelangen ſie zu voller Ausbildung des Bewußtſeins und mit Hülfe öffentlicher Inſtitutionen zu geſicherter Wirk- ſamkeit. Sie können wohl gedrückt, aber nie ganz unterdrückt, wohl miß- leitet, aber nicht zerſtört werden. Immer wieder erheben ſie ſich, wenn der Druck nachläßt, und beſinnen ſie ſich, wenn die verwirrende Leiden- ſchaft erliſcht. Der Rechtsſinn iſt ohne Zweifel ſtärker in den Männern als in den Frauen und jene ſind bereiter als dieſe, ihr Recht gegen Jeder- mann mit Gründen und im Rothfall mit den Waffen zu verfechten. Aber an zähem und lebhaftem Rechtsgefühl ſtehen die Frauen den Männern nicht nach. Sie ergeben ſich eher der übermächtigen Gewalt, aber ſie empfinden und beklagen das Unrecht, das ihnen widerfährt, nicht deshalb weniger, weil ſie ſich ſchwächer fühlen und weniger demſelben widerſtehen können. Schon in den Kindern zeigt ſich dieſe Anlage der Menſchennatur für die Rechtsbildung. Auch die Kinder haben ein ſcharfes Auge für die Ungerechtigkeit, der ſie in der Familie oder in der Schule ausgeſetzt ſind und werden oft tief verletzt und verbittert, wenn ſie glauben, parteiiſch behandelt zu werden. Wenn es aber eine unbeſtreitbare Wahrheit iſt, daß der Menſch von Natur ein Rechtsweſen und mit der Anlage zur Rechtsbildung ausgeſtattet iſt, dann muß auch das Völkerrecht in der Menſchennatur ſeine un- zerſtörbare Wurzel und ſeine ſichere Begründung haben. Völkerrecht heißt Bluntſchli, Das Völkerrecht. 1

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/23>, abgerufen am 21.11.2024.