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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
3. Angebliche Herrschaft der Gewalt.

Wer immer einen Blick wirft auf die Geschichte der Völker, wird
auch die Wahrnehmung machen, daß die Macht einen großen Antheil hat
an der Bildung der Staten und diese Macht erscheint oft genug in der
rohen Form der physischen Gewalt, welche mit dem Säbel in der Hand
ihre Gebote durchsetzt und unter dem Donner der Kanonen und im Ge-
witter der Schlacht die Verhältnisse der Staten umgestaltet. Aber obwohl
in allen Zeitaltern viel brutale Gewalt der Mächtigen sich breit macht
und auf die Rechtsordnung einen Druck übt, und obwohl viel verübtes
Unrecht ungestraft bleibt, so ist die Weltgeschichte doch nicht ein wüstes
Durcheinander der entfesselten Leidenschaften und nicht das Ergebniß der
rohen Gewaltübung. Vielmehr erkennen wir, bei näherer Prüfung und
Ueberlegung des weltgeschichtlichen Ganges, auch eine sittliche Ordnung.
Der sichere Fortschritt der allgemein-menschlichen Rechtsentwicklung stellt sich
darin unzweideutig dar. Das Wort unseres großen Dichters: "Die Welt-
geschichte ist das Weltgericht" spricht eine tröstliche Wahrheit aus.

Die Regel der heutigen Welt ist nicht mehr der Krieg, sondern der
Friede. Im Frieden aber herrscht in den Beziehungen der Staten zu
einander nicht die Gewalt, sondern in der That das anerkannte Recht. In
dem friedlichen Verkehre der Staten mit einander wird die Persönlichkeit
und die Selbständigkeit des schwächsten States ebenso geachtet, wie die des
mächtigsten. Das Völkerrecht regelt die Bedingungen, die Formen, die
Wirkungen dieses Verkehrs wesentlich für alle gleich, für die Riesen wie
für die Zwerge unter den Staten. Jeder Versuch, diese Grundsätze ge-
stützt auf die Uebermacht willkürlich zu verletzen und ihre Schranken zu
überschreiten, ruft einen Widerspruch und Widerstand hervor, welchen auch
der mächtige Stat nicht ohne Gefahr und Schaden verachten darf.

Aber selbst in dem Ausnahmszustande des Kriegs, in welchem
die physische Gewalt ihre mächtigste Wirkung äußert, werden dieser Gewalt
doch von dem Völkerrecht feste Schranken gesetzt, welche auch sie nicht
überschreiten darf, ohne die Verdammung der civilisirten Welt auf sich zu
laden. In nichts mehr bewährt und zeigt sich die Macht und das Wachs-
thum des Völkerrechts herrlicher als darin, daß es vermocht hat, die spröde
Wildheit der Kriegsgewalt allmählich zu zähmen und selbst die zerstörende
Wuth des feindlichen Hasses durch Gesetze der Menschlichkeit zu mäßigen
und zu bändigen.

Einleitung.
3. Angebliche Herrſchaft der Gewalt.

Wer immer einen Blick wirft auf die Geſchichte der Völker, wird
auch die Wahrnehmung machen, daß die Macht einen großen Antheil hat
an der Bildung der Staten und dieſe Macht erſcheint oft genug in der
rohen Form der phyſiſchen Gewalt, welche mit dem Säbel in der Hand
ihre Gebote durchſetzt und unter dem Donner der Kanonen und im Ge-
witter der Schlacht die Verhältniſſe der Staten umgeſtaltet. Aber obwohl
in allen Zeitaltern viel brutale Gewalt der Mächtigen ſich breit macht
und auf die Rechtsordnung einen Druck übt, und obwohl viel verübtes
Unrecht ungeſtraft bleibt, ſo iſt die Weltgeſchichte doch nicht ein wüſtes
Durcheinander der entfeſſelten Leidenſchaften und nicht das Ergebniß der
rohen Gewaltübung. Vielmehr erkennen wir, bei näherer Prüfung und
Ueberlegung des weltgeſchichtlichen Ganges, auch eine ſittliche Ordnung.
Der ſichere Fortſchritt der allgemein-menſchlichen Rechtsentwicklung ſtellt ſich
darin unzweideutig dar. Das Wort unſeres großen Dichters: „Die Welt-
geſchichte iſt das Weltgericht“ ſpricht eine tröſtliche Wahrheit aus.

Die Regel der heutigen Welt iſt nicht mehr der Krieg, ſondern der
Friede. Im Frieden aber herrſcht in den Beziehungen der Staten zu
einander nicht die Gewalt, ſondern in der That das anerkannte Recht. In
dem friedlichen Verkehre der Staten mit einander wird die Perſönlichkeit
und die Selbſtändigkeit des ſchwächſten States ebenſo geachtet, wie die des
mächtigſten. Das Völkerrecht regelt die Bedingungen, die Formen, die
Wirkungen dieſes Verkehrs weſentlich für alle gleich, für die Rieſen wie
für die Zwerge unter den Staten. Jeder Verſuch, dieſe Grundſätze ge-
ſtützt auf die Uebermacht willkürlich zu verletzen und ihre Schranken zu
überſchreiten, ruft einen Widerſpruch und Widerſtand hervor, welchen auch
der mächtige Stat nicht ohne Gefahr und Schaden verachten darf.

Aber ſelbſt in dem Ausnahmszuſtande des Kriegs, in welchem
die phyſiſche Gewalt ihre mächtigſte Wirkung äußert, werden dieſer Gewalt
doch von dem Völkerrecht feſte Schranken geſetzt, welche auch ſie nicht
überſchreiten darf, ohne die Verdammung der civiliſirten Welt auf ſich zu
laden. In nichts mehr bewährt und zeigt ſich die Macht und das Wachs-
thum des Völkerrechts herrlicher als darin, daß es vermocht hat, die ſpröde
Wildheit der Kriegsgewalt allmählich zu zähmen und ſelbſt die zerſtörende
Wuth des feindlichen Haſſes durch Geſetze der Menſchlichkeit zu mäßigen
und zu bändigen.

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[9/0031] Einleitung. 3. Angebliche Herrſchaft der Gewalt. Wer immer einen Blick wirft auf die Geſchichte der Völker, wird auch die Wahrnehmung machen, daß die Macht einen großen Antheil hat an der Bildung der Staten und dieſe Macht erſcheint oft genug in der rohen Form der phyſiſchen Gewalt, welche mit dem Säbel in der Hand ihre Gebote durchſetzt und unter dem Donner der Kanonen und im Ge- witter der Schlacht die Verhältniſſe der Staten umgeſtaltet. Aber obwohl in allen Zeitaltern viel brutale Gewalt der Mächtigen ſich breit macht und auf die Rechtsordnung einen Druck übt, und obwohl viel verübtes Unrecht ungeſtraft bleibt, ſo iſt die Weltgeſchichte doch nicht ein wüſtes Durcheinander der entfeſſelten Leidenſchaften und nicht das Ergebniß der rohen Gewaltübung. Vielmehr erkennen wir, bei näherer Prüfung und Ueberlegung des weltgeſchichtlichen Ganges, auch eine ſittliche Ordnung. Der ſichere Fortſchritt der allgemein-menſchlichen Rechtsentwicklung ſtellt ſich darin unzweideutig dar. Das Wort unſeres großen Dichters: „Die Welt- geſchichte iſt das Weltgericht“ ſpricht eine tröſtliche Wahrheit aus. Die Regel der heutigen Welt iſt nicht mehr der Krieg, ſondern der Friede. Im Frieden aber herrſcht in den Beziehungen der Staten zu einander nicht die Gewalt, ſondern in der That das anerkannte Recht. In dem friedlichen Verkehre der Staten mit einander wird die Perſönlichkeit und die Selbſtändigkeit des ſchwächſten States ebenſo geachtet, wie die des mächtigſten. Das Völkerrecht regelt die Bedingungen, die Formen, die Wirkungen dieſes Verkehrs weſentlich für alle gleich, für die Rieſen wie für die Zwerge unter den Staten. Jeder Verſuch, dieſe Grundſätze ge- ſtützt auf die Uebermacht willkürlich zu verletzen und ihre Schranken zu überſchreiten, ruft einen Widerſpruch und Widerſtand hervor, welchen auch der mächtige Stat nicht ohne Gefahr und Schaden verachten darf. Aber ſelbſt in dem Ausnahmszuſtande des Kriegs, in welchem die phyſiſche Gewalt ihre mächtigſte Wirkung äußert, werden dieſer Gewalt doch von dem Völkerrecht feſte Schranken geſetzt, welche auch ſie nicht überſchreiten darf, ohne die Verdammung der civiliſirten Welt auf ſich zu laden. In nichts mehr bewährt und zeigt ſich die Macht und das Wachs- thum des Völkerrechts herrlicher als darin, daß es vermocht hat, die ſpröde Wildheit der Kriegsgewalt allmählich zu zähmen und ſelbſt die zerſtörende Wuth des feindlichen Haſſes durch Geſetze der Menſchlichkeit zu mäßigen und zu bändigen.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/31>, abgerufen am 21.11.2024.