kirchlichen Eiferer die Wahrheit verfochten, daß das Natur- und das Völker- recht nicht auf die Christenheit eingeschlossen sei, sondern alle Völker aller Religionen verbinde, weil alle zur Menschheit gehören.
Trotz dieser einleuchtenden Lehren ist in unserm civilisirten Europa der große Fortschritt der Wissenschaft erst vor wenig Jahren zu durch- greifender practischer Anerkennung gelangt. Noch die sogenannte Heilige Allianz vom September 1815 wollte ein ausschließlich christliches Völkerrecht begründen und schützen. Allerdings war sie nicht mehr ganz so enge, wie das mittelalterliche Glaubensrecht. Sie unterschied nicht mehr zwischen rechtgläubigen und nicht rechtgläubigen christlichen Bekenntnissen und beseitigte die feindliche Scheidung der verschiedenen Confessionen. In ihr verband sich der katholische Kaiser von Oesterreich mit dem protestanti- schen Könige von Preußen und dem griechischen Czaren von Rußland. Die verschiedenen Confessionen sollten nur Eine christliche Völkerfamilie bilden. Aber man wollte doch nicht über die Gränze der Christenheit hinaus gehen und meinte in der christlichen Religion die Grundlage des neuen Völkerrechts zu finden. Die Türkei blieb noch ausgeschlossen von der europäischen Statengemeinschaft. Freilich hatte man es schon seit Jahr- hunderten nicht vermeiden können, auch mit der hohen Pforte völkerrecht- liche Verträge abzuschließen. Aber erst auf dem Pariser Friedenscongreß vom Jahre 1856 wurde die Türkei als ein berechtigtes Glied in die europäische Statengenossenschaft aufgenommen und dadurch der allgemein- menschliche Charakter des Völkerrechts anerkannt.
Seither ist es auch in der Praxis anerkannt, daß die Gränzen der Christenheit nicht zugleich Gränzen des Völkerrechts seien. Unbedenklich breitet sich dasselbe über andere muhammedanische Staten und ebenso über China und Japan aus und fordert von allen Völkern Achtung seiner Rechtsgrundsätze, mögen dieselben nun Gott nach der Weise der Christen oder der Buddhisten, nach Art der Muhammedaner oder der Schüler des Confucius verehren. Endlich ist die Wahrheit durchgedrungen: Der re- ligiöse Glaube begründet nicht und behindert nicht die Rechts- pflicht.
Schranken des Völkerrechts.
Das moderne Völkerrecht erkennt voraus das Nebeneinander- bestehen der verschiedenen Staten an. Es soll die Existenz der Staten sichern, nicht dieselbe gefährden, ihre Freiheit schützen, nicht unterdrücken.
Bluntschli, Das Völkerrecht. 2
Einleitung.
kirchlichen Eiferer die Wahrheit verfochten, daß das Natur- und das Völker- recht nicht auf die Chriſtenheit eingeſchloſſen ſei, ſondern alle Völker aller Religionen verbinde, weil alle zur Menſchheit gehören.
Trotz dieſer einleuchtenden Lehren iſt in unſerm civiliſirten Europa der große Fortſchritt der Wiſſenſchaft erſt vor wenig Jahren zu durch- greifender practiſcher Anerkennung gelangt. Noch die ſogenannte Heilige Allianz vom September 1815 wollte ein ausſchließlich chriſtliches Völkerrecht begründen und ſchützen. Allerdings war ſie nicht mehr ganz ſo enge, wie das mittelalterliche Glaubensrecht. Sie unterſchied nicht mehr zwiſchen rechtgläubigen und nicht rechtgläubigen chriſtlichen Bekenntniſſen und beſeitigte die feindliche Scheidung der verſchiedenen Confeſſionen. In ihr verband ſich der katholiſche Kaiſer von Oeſterreich mit dem proteſtanti- ſchen Könige von Preußen und dem griechiſchen Czaren von Rußland. Die verſchiedenen Confeſſionen ſollten nur Eine chriſtliche Völkerfamilie bilden. Aber man wollte doch nicht über die Gränze der Chriſtenheit hinaus gehen und meinte in der chriſtlichen Religion die Grundlage des neuen Völkerrechts zu finden. Die Türkei blieb noch ausgeſchloſſen von der europäiſchen Statengemeinſchaft. Freilich hatte man es ſchon ſeit Jahr- hunderten nicht vermeiden können, auch mit der hohen Pforte völkerrecht- liche Verträge abzuſchließen. Aber erſt auf dem Pariſer Friedenscongreß vom Jahre 1856 wurde die Türkei als ein berechtigtes Glied in die europäiſche Statengenoſſenſchaft aufgenommen und dadurch der allgemein- menſchliche Charakter des Völkerrechts anerkannt.
Seither iſt es auch in der Praxis anerkannt, daß die Gränzen der Chriſtenheit nicht zugleich Gränzen des Völkerrechts ſeien. Unbedenklich breitet ſich dasſelbe über andere muhammedaniſche Staten und ebenſo über China und Japan aus und fordert von allen Völkern Achtung ſeiner Rechtsgrundſätze, mögen dieſelben nun Gott nach der Weiſe der Chriſten oder der Buddhiſten, nach Art der Muhammedaner oder der Schüler des Confucius verehren. Endlich iſt die Wahrheit durchgedrungen: Der re- ligiöſe Glaube begründet nicht und behindert nicht die Rechts- pflicht.
Schranken des Völkerrechts.
Das moderne Völkerrecht erkennt voraus das Nebeneinander- beſtehen der verſchiedenen Staten an. Es ſoll die Exiſtenz der Staten ſichern, nicht dieſelbe gefährden, ihre Freiheit ſchützen, nicht unterdrücken.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0039"n="17"/><fwplace="top"type="header">Einleitung.</fw><lb/>
kirchlichen Eiferer die Wahrheit verfochten, daß das Natur- und das Völker-<lb/>
recht nicht auf die Chriſtenheit eingeſchloſſen ſei, ſondern alle Völker aller<lb/>
Religionen verbinde, weil alle zur Menſchheit gehören.</p><lb/><p>Trotz dieſer einleuchtenden Lehren iſt in unſerm civiliſirten Europa<lb/>
der große Fortſchritt der Wiſſenſchaft erſt vor wenig Jahren zu durch-<lb/>
greifender practiſcher Anerkennung gelangt. Noch die ſogenannte <hirendition="#g">Heilige<lb/>
Allianz</hi> vom September 1815 wollte ein <hirendition="#g">ausſchließlich chriſtliches</hi><lb/>
Völkerrecht begründen und ſchützen. Allerdings war ſie nicht mehr ganz<lb/>ſo enge, wie das mittelalterliche Glaubensrecht. Sie unterſchied nicht mehr<lb/>
zwiſchen rechtgläubigen und nicht rechtgläubigen chriſtlichen Bekenntniſſen<lb/>
und beſeitigte die feindliche Scheidung der verſchiedenen Confeſſionen. In<lb/>
ihr verband ſich der katholiſche Kaiſer von Oeſterreich mit dem proteſtanti-<lb/>ſchen Könige von Preußen und dem griechiſchen Czaren von Rußland.<lb/>
Die verſchiedenen Confeſſionen ſollten nur Eine chriſtliche Völkerfamilie<lb/>
bilden. Aber man wollte doch nicht über die Gränze der Chriſtenheit<lb/>
hinaus gehen und meinte in der chriſtlichen Religion die Grundlage des<lb/>
neuen Völkerrechts zu finden. Die Türkei blieb noch ausgeſchloſſen von der<lb/>
europäiſchen Statengemeinſchaft. Freilich hatte man es ſchon ſeit Jahr-<lb/>
hunderten nicht vermeiden können, auch mit der hohen Pforte völkerrecht-<lb/>
liche Verträge abzuſchließen. Aber erſt auf dem Pariſer Friedenscongreß<lb/>
vom Jahre 1856 wurde die Türkei als ein berechtigtes Glied in die<lb/>
europäiſche Statengenoſſenſchaft aufgenommen und dadurch der <hirendition="#g">allgemein-<lb/>
menſchliche</hi> Charakter des Völkerrechts anerkannt.</p><lb/><p>Seither iſt es auch in der Praxis anerkannt, daß die Gränzen der<lb/>
Chriſtenheit nicht zugleich Gränzen des Völkerrechts ſeien. Unbedenklich<lb/>
breitet ſich dasſelbe über andere muhammedaniſche Staten und ebenſo über<lb/>
China und Japan aus und fordert von allen Völkern Achtung ſeiner<lb/>
Rechtsgrundſätze, mögen dieſelben nun Gott nach der Weiſe der Chriſten<lb/>
oder der Buddhiſten, nach Art der Muhammedaner oder der Schüler des<lb/>
Confucius verehren. Endlich iſt die Wahrheit durchgedrungen: <hirendition="#g">Der re-<lb/>
ligiöſe Glaube begründet nicht und behindert nicht die Rechts-<lb/>
pflicht</hi>.</p></div></div><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">Schranken des Völkerrechts.</hi></head><lb/><p>Das moderne Völkerrecht erkennt voraus das <hirendition="#g">Nebeneinander-<lb/>
beſtehen</hi> der verſchiedenen Staten an. Es ſoll die Exiſtenz der Staten<lb/>ſichern, nicht dieſelbe gefährden, ihre Freiheit ſchützen, nicht unterdrücken.<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Bluntſchli</hi>, Das Völkerrecht. 2</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[17/0039]
Einleitung.
kirchlichen Eiferer die Wahrheit verfochten, daß das Natur- und das Völker-
recht nicht auf die Chriſtenheit eingeſchloſſen ſei, ſondern alle Völker aller
Religionen verbinde, weil alle zur Menſchheit gehören.
Trotz dieſer einleuchtenden Lehren iſt in unſerm civiliſirten Europa
der große Fortſchritt der Wiſſenſchaft erſt vor wenig Jahren zu durch-
greifender practiſcher Anerkennung gelangt. Noch die ſogenannte Heilige
Allianz vom September 1815 wollte ein ausſchließlich chriſtliches
Völkerrecht begründen und ſchützen. Allerdings war ſie nicht mehr ganz
ſo enge, wie das mittelalterliche Glaubensrecht. Sie unterſchied nicht mehr
zwiſchen rechtgläubigen und nicht rechtgläubigen chriſtlichen Bekenntniſſen
und beſeitigte die feindliche Scheidung der verſchiedenen Confeſſionen. In
ihr verband ſich der katholiſche Kaiſer von Oeſterreich mit dem proteſtanti-
ſchen Könige von Preußen und dem griechiſchen Czaren von Rußland.
Die verſchiedenen Confeſſionen ſollten nur Eine chriſtliche Völkerfamilie
bilden. Aber man wollte doch nicht über die Gränze der Chriſtenheit
hinaus gehen und meinte in der chriſtlichen Religion die Grundlage des
neuen Völkerrechts zu finden. Die Türkei blieb noch ausgeſchloſſen von der
europäiſchen Statengemeinſchaft. Freilich hatte man es ſchon ſeit Jahr-
hunderten nicht vermeiden können, auch mit der hohen Pforte völkerrecht-
liche Verträge abzuſchließen. Aber erſt auf dem Pariſer Friedenscongreß
vom Jahre 1856 wurde die Türkei als ein berechtigtes Glied in die
europäiſche Statengenoſſenſchaft aufgenommen und dadurch der allgemein-
menſchliche Charakter des Völkerrechts anerkannt.
Seither iſt es auch in der Praxis anerkannt, daß die Gränzen der
Chriſtenheit nicht zugleich Gränzen des Völkerrechts ſeien. Unbedenklich
breitet ſich dasſelbe über andere muhammedaniſche Staten und ebenſo über
China und Japan aus und fordert von allen Völkern Achtung ſeiner
Rechtsgrundſätze, mögen dieſelben nun Gott nach der Weiſe der Chriſten
oder der Buddhiſten, nach Art der Muhammedaner oder der Schüler des
Confucius verehren. Endlich iſt die Wahrheit durchgedrungen: Der re-
ligiöſe Glaube begründet nicht und behindert nicht die Rechts-
pflicht.
Schranken des Völkerrechts.
Das moderne Völkerrecht erkennt voraus das Nebeneinander-
beſtehen der verſchiedenen Staten an. Es ſoll die Exiſtenz der Staten
ſichern, nicht dieſelbe gefährden, ihre Freiheit ſchützen, nicht unterdrücken.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/39>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.