Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Achtes Buch.
714.

Aller frühere Streit wird durch den Frieden geschlichtet und alle
frühern Verletzungen und Beleidigungen werden der Vergessenheit über-
liefert. Ein neuer Krieg darf nur durch neue Kriegsursachen begründet
werden.

Vgl. oben § 708.

715.

Der öffentliche Besitzstand zur Zeit des Friedensschlusses wird, soweit
nicht darin abweichende Bestimmungen getroffen sind, als Grundlage der
erneuerten Friedensordnung betrachtet. Jeder Theil behält das Gebiet
nunmehr zu Recht, das er besitzt.

1. Der Friedensvertrag kann auch eine andere Grundlage des neuen Friedens-
standes festsetzen. Sehr oft greift man auf den Rechtszustand vor dem Ausbruch
des Krieges zurück und stellt denselben wieder her. Es ist das der sogenannte
Status quo ante bellum sc. res fuerunt. Wenn das aber nicht geschehen
ist, so wird der gegenwärtige Besitzstand, d. h. der Status, quo bellum
res reliquit
als Grundlage angenommen. Man bezeichnet diesen Grundsatz auch
in Erinnerung an das Interdict des römischen Prätors zum Schutz des Besitzes
eines Grundstücks gegen gewaltsame oder sonst rechtswidrige Störung als Uti
possidetis.
Diese Bezeichnung ist freilich ungenau, theils weil es sich hier nicht
um privatrechtlichen Grundbesitz, sondern um statsrechtliche Gebietshoheit
handelt, theils weil das römische Interdict nur den Besitz schützt (als interdictum
retinendae possessionis
), der völkerrechtliche Friedensschluß dagegen nicht bloß
Besitzverhältnisse regulirt, sondern auf deren Grundlage die Rechtsverhältnisse
von neuem ordnet oder befestigt. Erst durch den Frieden wird die Eroberung
und die gewaltsame Einverleibung aus einem Besitzstand in einen Rechtsstand
umgewandelt. Vgl. oben § 50 u. 545.

716.

Die Kriegsgefangenschaft erlischt von Rechtswegen mit dem Friedens-
schluß, indem dieselbe nur aus Kriegsrecht und nur als Kriegsmittel
geübt wird.

Vorbehalten bleiben die Maßregeln sowohl einer geordneten Ueber-
gabe und Entlassung der vormaligen Gefangenen als der Sorge für Be-
zahlung der Schulden, welche dieselben contrahirt haben.

Achtes Buch.
714.

Aller frühere Streit wird durch den Frieden geſchlichtet und alle
frühern Verletzungen und Beleidigungen werden der Vergeſſenheit über-
liefert. Ein neuer Krieg darf nur durch neue Kriegsurſachen begründet
werden.

Vgl. oben § 708.

715.

Der öffentliche Beſitzſtand zur Zeit des Friedensſchluſſes wird, ſoweit
nicht darin abweichende Beſtimmungen getroffen ſind, als Grundlage der
erneuerten Friedensordnung betrachtet. Jeder Theil behält das Gebiet
nunmehr zu Recht, das er beſitzt.

1. Der Friedensvertrag kann auch eine andere Grundlage des neuen Friedens-
ſtandes feſtſetzen. Sehr oft greift man auf den Rechtszuſtand vor dem Ausbruch
des Krieges zurück und ſtellt denſelben wieder her. Es iſt das der ſogenannte
Status quo ante bellum sc. res fuerunt. Wenn das aber nicht geſchehen
iſt, ſo wird der gegenwärtige Beſitzſtand, d. h. der Status, quo bellum
res reliquit
als Grundlage angenommen. Man bezeichnet dieſen Grundſatz auch
in Erinnerung an das Interdict des römiſchen Prätors zum Schutz des Beſitzes
eines Grundſtücks gegen gewaltſame oder ſonſt rechtswidrige Störung als Uti
possidetis.
Dieſe Bezeichnung iſt freilich ungenau, theils weil es ſich hier nicht
um privatrechtlichen Grundbeſitz, ſondern um ſtatsrechtliche Gebietshoheit
handelt, theils weil das römiſche Interdict nur den Beſitz ſchützt (als interdictum
retinendae possessionis
), der völkerrechtliche Friedensſchluß dagegen nicht bloß
Beſitzverhältniſſe regulirt, ſondern auf deren Grundlage die Rechtsverhältniſſe
von neuem ordnet oder befeſtigt. Erſt durch den Frieden wird die Eroberung
und die gewaltſame Einverleibung aus einem Beſitzſtand in einen Rechtsſtand
umgewandelt. Vgl. oben § 50 u. 545.

716.

Die Kriegsgefangenſchaft erliſcht von Rechtswegen mit dem Friedens-
ſchluß, indem dieſelbe nur aus Kriegsrecht und nur als Kriegsmittel
geübt wird.

Vorbehalten bleiben die Maßregeln ſowohl einer geordneten Ueber-
gabe und Entlaſſung der vormaligen Gefangenen als der Sorge für Be-
zahlung der Schulden, welche dieſelben contrahirt haben.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0410" n="388"/>
            <fw place="top" type="header">Achtes Buch.</fw><lb/>
            <div n="4">
              <head>714.</head><lb/>
              <p>Aller frühere Streit wird durch den Frieden ge&#x017F;chlichtet und alle<lb/>
frühern Verletzungen und Beleidigungen werden der Verge&#x017F;&#x017F;enheit über-<lb/>
liefert. Ein neuer Krieg darf nur durch neue Kriegsur&#x017F;achen begründet<lb/>
werden.</p><lb/>
              <p>Vgl. oben § 708.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>715.</head><lb/>
              <p>Der öffentliche Be&#x017F;itz&#x017F;tand zur Zeit des Friedens&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;es wird, &#x017F;oweit<lb/>
nicht darin abweichende Be&#x017F;timmungen getroffen &#x017F;ind, als Grundlage der<lb/>
erneuerten Friedensordnung betrachtet. Jeder Theil behält das Gebiet<lb/>
nunmehr zu Recht, das er be&#x017F;itzt.</p><lb/>
              <p>1. Der Friedensvertrag kann auch eine andere Grundlage des neuen Friedens-<lb/>
&#x017F;tandes fe&#x017F;t&#x017F;etzen. Sehr oft greift man auf den Rechtszu&#x017F;tand <hi rendition="#g">vor</hi> dem Ausbruch<lb/>
des Krieges zurück und &#x017F;tellt den&#x017F;elben wieder her. Es i&#x017F;t das der &#x017F;ogenannte<lb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Status quo ante bellum</hi> sc. res fuerunt.</hi> Wenn das aber nicht ge&#x017F;chehen<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;o wird der <hi rendition="#g">gegenwärtige Be&#x017F;itz&#x017F;tand</hi>, d. h. der <hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">Status, quo bellum<lb/>
res reliquit</hi></hi> als Grundlage angenommen. Man bezeichnet die&#x017F;en Grund&#x017F;atz auch<lb/>
in Erinnerung an das Interdict des römi&#x017F;chen Prätors zum Schutz des Be&#x017F;itzes<lb/>
eines Grund&#x017F;tücks gegen gewalt&#x017F;ame oder &#x017F;on&#x017F;t rechtswidrige Störung als <hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">Uti<lb/>
possidetis.</hi></hi> Die&#x017F;e Bezeichnung i&#x017F;t freilich ungenau, theils weil es &#x017F;ich hier nicht<lb/>
um privatrechtlichen Grundbe&#x017F;itz, &#x017F;ondern um <hi rendition="#g">&#x017F;tatsrechtliche Gebietshoheit</hi><lb/>
handelt, theils weil das römi&#x017F;che Interdict nur den <hi rendition="#g">Be&#x017F;itz</hi> &#x017F;chützt (als <hi rendition="#aq">interdictum<lb/>
retinendae possessionis</hi>), der völkerrechtliche Friedens&#x017F;chluß dagegen nicht bloß<lb/>
Be&#x017F;itzverhältni&#x017F;&#x017F;e regulirt, &#x017F;ondern auf deren Grundlage die <hi rendition="#g">Rechtsverhältni&#x017F;&#x017F;e</hi><lb/>
von neuem ordnet oder befe&#x017F;tigt. Er&#x017F;t durch den Frieden wird die <hi rendition="#g">Eroberung</hi><lb/>
und die gewalt&#x017F;ame <hi rendition="#g">Einverleibung</hi> aus einem Be&#x017F;itz&#x017F;tand in einen Rechts&#x017F;tand<lb/>
umgewandelt. Vgl. oben § 50 u. 545.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>716.</head><lb/>
              <p>Die Kriegsgefangen&#x017F;chaft erli&#x017F;cht von Rechtswegen mit dem Friedens-<lb/>
&#x017F;chluß, indem die&#x017F;elbe nur aus Kriegsrecht und nur als Kriegsmittel<lb/>
geübt wird.</p><lb/>
              <p>Vorbehalten bleiben die Maßregeln &#x017F;owohl einer geordneten Ueber-<lb/>
gabe und Entla&#x017F;&#x017F;ung der vormaligen Gefangenen als der Sorge für Be-<lb/>
zahlung der Schulden, welche die&#x017F;elben contrahirt haben.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[388/0410] Achtes Buch. 714. Aller frühere Streit wird durch den Frieden geſchlichtet und alle frühern Verletzungen und Beleidigungen werden der Vergeſſenheit über- liefert. Ein neuer Krieg darf nur durch neue Kriegsurſachen begründet werden. Vgl. oben § 708. 715. Der öffentliche Beſitzſtand zur Zeit des Friedensſchluſſes wird, ſoweit nicht darin abweichende Beſtimmungen getroffen ſind, als Grundlage der erneuerten Friedensordnung betrachtet. Jeder Theil behält das Gebiet nunmehr zu Recht, das er beſitzt. 1. Der Friedensvertrag kann auch eine andere Grundlage des neuen Friedens- ſtandes feſtſetzen. Sehr oft greift man auf den Rechtszuſtand vor dem Ausbruch des Krieges zurück und ſtellt denſelben wieder her. Es iſt das der ſogenannte Status quo ante bellum sc. res fuerunt. Wenn das aber nicht geſchehen iſt, ſo wird der gegenwärtige Beſitzſtand, d. h. der Status, quo bellum res reliquit als Grundlage angenommen. Man bezeichnet dieſen Grundſatz auch in Erinnerung an das Interdict des römiſchen Prätors zum Schutz des Beſitzes eines Grundſtücks gegen gewaltſame oder ſonſt rechtswidrige Störung als Uti possidetis. Dieſe Bezeichnung iſt freilich ungenau, theils weil es ſich hier nicht um privatrechtlichen Grundbeſitz, ſondern um ſtatsrechtliche Gebietshoheit handelt, theils weil das römiſche Interdict nur den Beſitz ſchützt (als interdictum retinendae possessionis), der völkerrechtliche Friedensſchluß dagegen nicht bloß Beſitzverhältniſſe regulirt, ſondern auf deren Grundlage die Rechtsverhältniſſe von neuem ordnet oder befeſtigt. Erſt durch den Frieden wird die Eroberung und die gewaltſame Einverleibung aus einem Beſitzſtand in einen Rechtsſtand umgewandelt. Vgl. oben § 50 u. 545. 716. Die Kriegsgefangenſchaft erliſcht von Rechtswegen mit dem Friedens- ſchluß, indem dieſelbe nur aus Kriegsrecht und nur als Kriegsmittel geübt wird. Vorbehalten bleiben die Maßregeln ſowohl einer geordneten Ueber- gabe und Entlaſſung der vormaligen Gefangenen als der Sorge für Be- zahlung der Schulden, welche dieſelben contrahirt haben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/410
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/410>, abgerufen am 22.11.2024.