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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Erstes Buch.
nur einen mittelbaren Schutz, durch Vermittlung der Staten. Der englisch-
amerikanische Sprachgebrauch nennt das Völkerrecht überhaupt "international
law
",
versteht aber unter nation, wie der französische das, was wir Volk
(populus) heißen, d. h. das zum Stat organisirte Gemeinwesen, den lebendigen
Stat, nicht die bloße Sprach- und Culturgemeinschaft, welche wir Deutsche Nation
heißen.

2.

Die gemeinsame Menschennatur ist das natürliche Band, welches alle
Völker zur Einen Menschheit verbindet. Daher hat jedes Volk ein natür-
liches Recht, in seiner Menschennatur von den andern Völkern geachtet zu
werden und die Pflicht, dieselbe Menschennatur in diesen zu achten.

Das ist die menschliche Rechtsgleichheit der Völker.

In allen Zeiten haben einzelne Weise diese Wahrheit erkannt; aber An-
erkennung hat dieselbe erst in dem neueren Völkerrecht gefunden, und heute noch
stehen ihrer allgemeinen Durchführung als Rechtssatz vielfältige Vorurtheile, Glaubens-
und Rassenhaß und Selbstsucht als Hindernisse im Wege.

3.

Es hängt nicht von der Willkür eines States ab, das Völkerrecht
zu achten oder zu verwerfen. Da sich kein Stat seiner Menschennatur
entledigen kann, so darf er sich auch seiner Menschenpflicht nicht entziehen.

1. Wäre das Völkerrecht ausschließlich das Erzeugniß des freien Willens der
einzelnen Staten, so wäre im Grunde alles Völkerrecht Vertragsrecht, d. h.
kein Stat wäre andern Staten gegenüber verpflichtet, völkerrechtliche Sätze zu be-
achten, wenn dieselben nicht durch Statenvertrag sanctionirt wären. Es bliebe dann
sogar unerklärt, weshalb denn die Verträge die Staten auch dann noch binden,
wenn der Wille der Vertragsparteien sich ändert, weßhalb nicht jede Willensänderung
eine Rechtsänderung nach sich zieht. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts setzt die
Nothwendigkeit desselben im Gegensatze zur Willkür voraus.

2. Auf dem Congreß zu Aachen im Jahre 1818 wurde von den 5 europäischen
Großmächten die Verbindlichkeit des europäischen Völkerrechts -- sowohl für ihre
wechselseitigen Beziehungen als im Verhältniß zu andern Staten -- anerkannt.
Protokoll v. 15. Nov. 1818: "Les souverains en formant cette union auguste,
ont regarde comme la base fondamentale, leur invariable resolution de ne
jamais s'ecarter, ni entre eux ni dans leurs relations avec d'autres etats, de
l'observation la plus stricte des principes du droit des gens, principes qui
dans leur application a un etat de paix permanent, peuvent seuls garantir
efficacement l'independance de chaque gouvernement et la stabilite de
l'association generale".

Erſtes Buch.
nur einen mittelbaren Schutz, durch Vermittlung der Staten. Der engliſch-
amerikaniſche Sprachgebrauch nennt das Völkerrecht überhaupt international
law
“,
verſteht aber unter nation, wie der franzöſiſche das, was wir Volk
(populus) heißen, d. h. das zum Stat organiſirte Gemeinweſen, den lebendigen
Stat, nicht die bloße Sprach- und Culturgemeinſchaft, welche wir Deutſche Nation
heißen.

2.

Die gemeinſame Menſchennatur iſt das natürliche Band, welches alle
Völker zur Einen Menſchheit verbindet. Daher hat jedes Volk ein natür-
liches Recht, in ſeiner Menſchennatur von den andern Völkern geachtet zu
werden und die Pflicht, dieſelbe Menſchennatur in dieſen zu achten.

Das iſt die menſchliche Rechtsgleichheit der Völker.

In allen Zeiten haben einzelne Weiſe dieſe Wahrheit erkannt; aber An-
erkennung hat dieſelbe erſt in dem neueren Völkerrecht gefunden, und heute noch
ſtehen ihrer allgemeinen Durchführung als Rechtsſatz vielfältige Vorurtheile, Glaubens-
und Raſſenhaß und Selbſtſucht als Hinderniſſe im Wege.

3.

Es hängt nicht von der Willkür eines States ab, das Völkerrecht
zu achten oder zu verwerfen. Da ſich kein Stat ſeiner Menſchennatur
entledigen kann, ſo darf er ſich auch ſeiner Menſchenpflicht nicht entziehen.

1. Wäre das Völkerrecht ausſchließlich das Erzeugniß des freien Willens der
einzelnen Staten, ſo wäre im Grunde alles Völkerrecht Vertragsrecht, d. h.
kein Stat wäre andern Staten gegenüber verpflichtet, völkerrechtliche Sätze zu be-
achten, wenn dieſelben nicht durch Statenvertrag ſanctionirt wären. Es bliebe dann
ſogar unerklärt, weshalb denn die Verträge die Staten auch dann noch binden,
wenn der Wille der Vertragsparteien ſich ändert, weßhalb nicht jede Willensänderung
eine Rechtsänderung nach ſich zieht. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts ſetzt die
Nothwendigkeit deſſelben im Gegenſatze zur Willkür voraus.

2. Auf dem Congreß zu Aachen im Jahre 1818 wurde von den 5 europäiſchen
Großmächten die Verbindlichkeit des europäiſchen Völkerrechts — ſowohl für ihre
wechſelſeitigen Beziehungen als im Verhältniß zu andern Staten — anerkannt.
Protokoll v. 15. Nov. 1818: „Les souverains en formant cette union auguste,
ont regardé comme la base fondamentale, leur invariable résolution de ne
jamais s’écarter, ni entre eux ni dans leurs relations avec d’autres états, de
l’observation la plus stricte des principes du droit des gens, principes qui
dans leur application à un état de paix permanent, peuvent seuls garantir
éfficacement l’indépendance de chaque gouvernement et la stabilité de
l’association générale“.

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[54/0076] Erſtes Buch. nur einen mittelbaren Schutz, durch Vermittlung der Staten. Der engliſch- amerikaniſche Sprachgebrauch nennt das Völkerrecht überhaupt „international law“, verſteht aber unter nation, wie der franzöſiſche das, was wir Volk (populus) heißen, d. h. das zum Stat organiſirte Gemeinweſen, den lebendigen Stat, nicht die bloße Sprach- und Culturgemeinſchaft, welche wir Deutſche Nation heißen. 2. Die gemeinſame Menſchennatur iſt das natürliche Band, welches alle Völker zur Einen Menſchheit verbindet. Daher hat jedes Volk ein natür- liches Recht, in ſeiner Menſchennatur von den andern Völkern geachtet zu werden und die Pflicht, dieſelbe Menſchennatur in dieſen zu achten. Das iſt die menſchliche Rechtsgleichheit der Völker. In allen Zeiten haben einzelne Weiſe dieſe Wahrheit erkannt; aber An- erkennung hat dieſelbe erſt in dem neueren Völkerrecht gefunden, und heute noch ſtehen ihrer allgemeinen Durchführung als Rechtsſatz vielfältige Vorurtheile, Glaubens- und Raſſenhaß und Selbſtſucht als Hinderniſſe im Wege. 3. Es hängt nicht von der Willkür eines States ab, das Völkerrecht zu achten oder zu verwerfen. Da ſich kein Stat ſeiner Menſchennatur entledigen kann, ſo darf er ſich auch ſeiner Menſchenpflicht nicht entziehen. 1. Wäre das Völkerrecht ausſchließlich das Erzeugniß des freien Willens der einzelnen Staten, ſo wäre im Grunde alles Völkerrecht Vertragsrecht, d. h. kein Stat wäre andern Staten gegenüber verpflichtet, völkerrechtliche Sätze zu be- achten, wenn dieſelben nicht durch Statenvertrag ſanctionirt wären. Es bliebe dann ſogar unerklärt, weshalb denn die Verträge die Staten auch dann noch binden, wenn der Wille der Vertragsparteien ſich ändert, weßhalb nicht jede Willensänderung eine Rechtsänderung nach ſich zieht. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts ſetzt die Nothwendigkeit deſſelben im Gegenſatze zur Willkür voraus. 2. Auf dem Congreß zu Aachen im Jahre 1818 wurde von den 5 europäiſchen Großmächten die Verbindlichkeit des europäiſchen Völkerrechts — ſowohl für ihre wechſelſeitigen Beziehungen als im Verhältniß zu andern Staten — anerkannt. Protokoll v. 15. Nov. 1818: „Les souverains en formant cette union auguste, ont regardé comme la base fondamentale, leur invariable résolution de ne jamais s’écarter, ni entre eux ni dans leurs relations avec d’autres états, de l’observation la plus stricte des principes du droit des gens, principes qui dans leur application à un état de paix permanent, peuvent seuls garantir éfficacement l’indépendance de chaque gouvernement et la stabilité de l’association générale“.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/76>, abgerufen am 24.11.2024.