die Lebenskraft des neuen Stats, demselben seine Anerkennung zu ge- währen.
Um deßwillen geschieht die Anerkennung neuer Staten gewöhnlich nicht gleich- zeitig durch die übrigen Staten, sondern nur stufenweise und allmählich, je nachdem dieselben derartigen Zweifeln ein geringes oder ein schweres Gewicht beilegen. Natürlich hat bei der Schätzung des Zweifels auch die Neigung oder Abneigung einigen Einfluß, und es wirken auch die politischen Interessen bald verzögernd bald förderlich ein.
35.
Der neu gebildete Stat hat ein Recht auf Eintritt in die völker- rechtliche Statengenossenschaft und auf Anerkennung von Seite der übrigen Staten, wenn sein Bestand unzweifelhaft und gesichert ist. Er hat dieses Recht, weil er existirt und das Völkerrecht die in der Welt existirenden Staten zu gemeinsamer Rechtsordnung verbindet.
Die Anerkennung eines wirklichen States durch andere Staten erscheint frei- lich in der Form eines freien Actes souveräner Staten, aber sie ist doch nicht ein Act der absoluten Willkür, denn das Völkerrecht verbindet die vor- handenen Staten auch wider ihren Willen zu menschlicher Rechtsgemeinschaft. Die in der älteren Litteratur vielfältig vertretene Meinung, daß es von dem bloßen Be- lieben eines jeden States abhänge, ob er einen andern Stat anerkennen wolle, oder nicht, verkennt die Rechtsnothwendigkeit des Völkerrechts und wäre nur dann richtig, wenn das Völkerrecht lediglich auf der Willkür der Staten beruhte, d. h. bloßes Vertragsrecht wäre.
36.
So wenig ein bestehender Stat sich der völkerrechtlichen Gemeinschaft willkürlich entziehen kann, ebenso wenig können die übrigen Staten einen bestehenden Stat willkürlich aus dem Völkerverband ausschließen.
37.
Die Pflicht zu völkerrechtlicher Anerkennung wird nicht durch die Rücksicht darauf aufgehoben, daß die Statenbildung nicht ohne Gewaltthat und Unrecht zu Stande gekommen sei, indem das Völkerrecht die wirk- lichen Staten auch dann verbindet, wenn sie Unrecht thun und die Frage, ob ein wirklicher Stat da sei, nicht von der Untadelhaftigkeit seiner Geburt abhängt.
Die Bildung neuer Staten geht fast niemals ohne Gewalt vor sich; indem
Völkerrechtliche Perſonen.
die Lebenskraft des neuen Stats, demſelben ſeine Anerkennung zu ge- währen.
Um deßwillen geſchieht die Anerkennung neuer Staten gewöhnlich nicht gleich- zeitig durch die übrigen Staten, ſondern nur ſtufenweiſe und allmählich, je nachdem dieſelben derartigen Zweifeln ein geringes oder ein ſchweres Gewicht beilegen. Natürlich hat bei der Schätzung des Zweifels auch die Neigung oder Abneigung einigen Einfluß, und es wirken auch die politiſchen Intereſſen bald verzögernd bald förderlich ein.
35.
Der neu gebildete Stat hat ein Recht auf Eintritt in die völker- rechtliche Statengenoſſenſchaft und auf Anerkennung von Seite der übrigen Staten, wenn ſein Beſtand unzweifelhaft und geſichert iſt. Er hat dieſes Recht, weil er exiſtirt und das Völkerrecht die in der Welt exiſtirenden Staten zu gemeinſamer Rechtsordnung verbindet.
Die Anerkennung eines wirklichen States durch andere Staten erſcheint frei- lich in der Form eines freien Actes ſouveräner Staten, aber ſie iſt doch nicht ein Act der abſoluten Willkür, denn das Völkerrecht verbindet die vor- handenen Staten auch wider ihren Willen zu menſchlicher Rechtsgemeinſchaft. Die in der älteren Litteratur vielfältig vertretene Meinung, daß es von dem bloßen Be- lieben eines jeden States abhänge, ob er einen andern Stat anerkennen wolle, oder nicht, verkennt die Rechtsnothwendigkeit des Völkerrechts und wäre nur dann richtig, wenn das Völkerrecht lediglich auf der Willkür der Staten beruhte, d. h. bloßes Vertragsrecht wäre.
36.
So wenig ein beſtehender Stat ſich der völkerrechtlichen Gemeinſchaft willkürlich entziehen kann, ebenſo wenig können die übrigen Staten einen beſtehenden Stat willkürlich aus dem Völkerverband ausſchließen.
37.
Die Pflicht zu völkerrechtlicher Anerkennung wird nicht durch die Rückſicht darauf aufgehoben, daß die Statenbildung nicht ohne Gewaltthat und Unrecht zu Stande gekommen ſei, indem das Völkerrecht die wirk- lichen Staten auch dann verbindet, wenn ſie Unrecht thun und die Frage, ob ein wirklicher Stat da ſei, nicht von der Untadelhaftigkeit ſeiner Geburt abhängt.
Die Bildung neuer Staten geht faſt niemals ohne Gewalt vor ſich; indem
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Völkerrechtliche Perſonen.
die Lebenskraft des neuen Stats, demſelben ſeine Anerkennung zu ge-
währen.
Um deßwillen geſchieht die Anerkennung neuer Staten gewöhnlich nicht gleich-
zeitig durch die übrigen Staten, ſondern nur ſtufenweiſe und allmählich, je nachdem
dieſelben derartigen Zweifeln ein geringes oder ein ſchweres Gewicht beilegen.
Natürlich hat bei der Schätzung des Zweifels auch die Neigung oder Abneigung
einigen Einfluß, und es wirken auch die politiſchen Intereſſen bald verzögernd bald
förderlich ein.
35.
Der neu gebildete Stat hat ein Recht auf Eintritt in die völker-
rechtliche Statengenoſſenſchaft und auf Anerkennung von Seite der übrigen
Staten, wenn ſein Beſtand unzweifelhaft und geſichert iſt. Er hat dieſes
Recht, weil er exiſtirt und das Völkerrecht die in der Welt exiſtirenden
Staten zu gemeinſamer Rechtsordnung verbindet.
Die Anerkennung eines wirklichen States durch andere Staten erſcheint frei-
lich in der Form eines freien Actes ſouveräner Staten, aber ſie iſt doch
nicht ein Act der abſoluten Willkür, denn das Völkerrecht verbindet die vor-
handenen Staten auch wider ihren Willen zu menſchlicher Rechtsgemeinſchaft. Die
in der älteren Litteratur vielfältig vertretene Meinung, daß es von dem bloßen Be-
lieben eines jeden States abhänge, ob er einen andern Stat anerkennen wolle, oder
nicht, verkennt die Rechtsnothwendigkeit des Völkerrechts und wäre nur dann richtig,
wenn das Völkerrecht lediglich auf der Willkür der Staten beruhte, d. h. bloßes
Vertragsrecht wäre.
36.
So wenig ein beſtehender Stat ſich der völkerrechtlichen Gemeinſchaft
willkürlich entziehen kann, ebenſo wenig können die übrigen Staten einen
beſtehenden Stat willkürlich aus dem Völkerverband ausſchließen.
37.
Die Pflicht zu völkerrechtlicher Anerkennung wird nicht durch die
Rückſicht darauf aufgehoben, daß die Statenbildung nicht ohne Gewaltthat
und Unrecht zu Stande gekommen ſei, indem das Völkerrecht die wirk-
lichen Staten auch dann verbindet, wenn ſie Unrecht thun und die Frage,
ob ein wirklicher Stat da ſei, nicht von der Untadelhaftigkeit ſeiner Geburt
abhängt.
Die Bildung neuer Staten geht faſt niemals ohne Gewalt vor ſich; indem
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/93>, abgerufen am 21.11.2024.
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