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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Versuch von den Eigenschaften etc.
schaften am meisten in Franckreich. Ein Volck zum Die-
nen gebohren gehorchet den Gesezen, und Boileau herr-
schet daselbst an Horazen statt. Aber wir muthige Britten
verachteten die fremden Geseze und behaupteten unsren
Freystand mit unsren rohen Sitten. Verwegene und eif-
rige Verfechter der Freyheit des Wizes trozten wir die
Römer wie vor Altem. Doch unter dem geringen Hau-
fen derer, die mehr Kenntniß und weniger Einbildung
hatten, wagten es einige, die bessere Sache der Alten zu
vertheidigen und die Grundgeseze des Wizes auch bey uns
herzustellen. Von diesen war die Muse, deren Regeln
und Exempel gelehret haben, daß das gröste Meisterstük
der Natur sey, wohl zu schreiben (q). So war Roscom-
mon, das so gelehrte als tugendhafte Haupt, an Sitten
so edel als am Geblüte. Er kannte den Römischen u. Grie-
chischen Wiz und keines Scribenten Verdienst war ihm ver-
borgen, als nur sein eigenes. So war zulezt auch Walsch der
Freund und Richter der Musen, der so gründlich zu rüh-
men als zu tadeln gewußt; Gelind gegen die Fehler nnd eifrig
für das Verdienst; Das aufgeklärteste Haupt und aufrichtig-
ste Herze. Empfange diesen demuthsvollen Ruhm von mir,
dn werther beweinter Schatten; das einige was meine dank-
bare Muse dir noch geben kan. Du hast sie in ihrer frühen
Jugend die Thöne gelernet. Du hast ihr die zarten Schwin-
gen beschnitten und ihrem Fluge die gemessene Höhe vorge-
schrieben. Nun, da sie ihren Führer verlohren, erküh-
net sie sich nicht mehr zu steigen und wagt nur einen kur-
zen Ausflug in niedrige Gedichte. Vergnügt, wenn die
Ungelehrten von ihr lernen ihre Mängel zu erkennen, und
die Gelehrten, dem was sie bereits wissen, weiters nach-
zudenken. Das Tadeln hat sie nie bekümmert, und der
Ruhm nie zu sehr gereizet. Sie erfreuet sich, wenn sie
loben kan, und ist nicht furchtsam zu strafen. Schmei-
cheln und Beleidigen sind ihr gleich sehr zuwider, und
wie sie nicht ohne Fehler ist, so schämet sie sich auch nicht,
sich zu bessern.

Von
(q) Eßay on poetry by the Duke of Buckingham.

Verſuch von den Eigenſchaften ꝛc.
ſchaften am meiſten in Franckreich. Ein Volck zum Die-
nen gebohren gehorchet den Geſezen, und Boileau herr-
ſchet daſelbſt an Horazen ſtatt. Aber wir muthige Britten
verachteten die fremden Geſeze und behaupteten unſren
Freyſtand mit unſren rohen Sitten. Verwegene und eif-
rige Verfechter der Freyheit des Wizes trozten wir die
Roͤmer wie vor Altem. Doch unter dem geringen Hau-
fen derer, die mehr Kenntniß und weniger Einbildung
hatten, wagten es einige, die beſſere Sache der Alten zu
vertheidigen und die Grundgeſeze des Wizes auch bey uns
herzuſtellen. Von dieſen war die Muſe, deren Regeln
und Exempel gelehret haben, daß das groͤſte Meiſterſtuͤk
der Natur ſey, wohl zu ſchreiben (q). So war Roſcom-
mon, das ſo gelehrte als tugendhafte Haupt, an Sitten
ſo edel als am Gebluͤte. Er kannte den Roͤmiſchen u. Grie-
chiſchen Wiz und keines Scribenten Verdienſt war ihm ver-
borgen, als nur ſein eigenes. So war zulezt auch Walſch der
Freund und Richter der Muſen, der ſo gruͤndlich zu ruͤh-
men als zu tadeln gewußt; Gelind gegen die Fehler nnd eifrig
fuͤr das Verdienſt; Das aufgeklaͤrteſte Haupt und aufrichtig-
ſte Herze. Empfange dieſen demuthsvollen Ruhm von mir,
dn werther beweinter Schatten; das einige was meine dank-
bare Muſe dir noch geben kan. Du haſt ſie in ihrer fruͤhen
Jugend die Thoͤne gelernet. Du haſt ihr die zarten Schwin-
gen beſchnitten und ihrem Fluge die gemeſſene Hoͤhe vorge-
ſchrieben. Nun, da ſie ihren Fuͤhrer verlohren, erkuͤh-
net ſie ſich nicht mehr zu ſteigen und wagt nur einen kur-
zen Ausflug in niedrige Gedichte. Vergnuͤgt, wenn die
Ungelehrten von ihr lernen ihre Maͤngel zu erkennen, und
die Gelehrten, dem was ſie bereits wiſſen, weiters nach-
zudenken. Das Tadeln hat ſie nie bekuͤmmert, und der
Ruhm nie zu ſehr gereizet. Sie erfreuet ſich, wenn ſie
loben kan, und iſt nicht furchtſam zu ſtrafen. Schmei-
cheln und Beleidigen ſind ihr gleich ſehr zuwider, und
wie ſie nicht ohne Fehler iſt, ſo ſchaͤmet ſie ſich auch nicht,
ſich zu beſſern.

Von
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[84/0100] Verſuch von den Eigenſchaften ꝛc. ſchaften am meiſten in Franckreich. Ein Volck zum Die- nen gebohren gehorchet den Geſezen, und Boileau herr- ſchet daſelbſt an Horazen ſtatt. Aber wir muthige Britten verachteten die fremden Geſeze und behaupteten unſren Freyſtand mit unſren rohen Sitten. Verwegene und eif- rige Verfechter der Freyheit des Wizes trozten wir die Roͤmer wie vor Altem. Doch unter dem geringen Hau- fen derer, die mehr Kenntniß und weniger Einbildung hatten, wagten es einige, die beſſere Sache der Alten zu vertheidigen und die Grundgeſeze des Wizes auch bey uns herzuſtellen. Von dieſen war die Muſe, deren Regeln und Exempel gelehret haben, daß das groͤſte Meiſterſtuͤk der Natur ſey, wohl zu ſchreiben (q). So war Roſcom- mon, das ſo gelehrte als tugendhafte Haupt, an Sitten ſo edel als am Gebluͤte. Er kannte den Roͤmiſchen u. Grie- chiſchen Wiz und keines Scribenten Verdienſt war ihm ver- borgen, als nur ſein eigenes. So war zulezt auch Walſch der Freund und Richter der Muſen, der ſo gruͤndlich zu ruͤh- men als zu tadeln gewußt; Gelind gegen die Fehler nnd eifrig fuͤr das Verdienſt; Das aufgeklaͤrteſte Haupt und aufrichtig- ſte Herze. Empfange dieſen demuthsvollen Ruhm von mir, dn werther beweinter Schatten; das einige was meine dank- bare Muſe dir noch geben kan. Du haſt ſie in ihrer fruͤhen Jugend die Thoͤne gelernet. Du haſt ihr die zarten Schwin- gen beſchnitten und ihrem Fluge die gemeſſene Hoͤhe vorge- ſchrieben. Nun, da ſie ihren Fuͤhrer verlohren, erkuͤh- net ſie ſich nicht mehr zu ſteigen und wagt nur einen kur- zen Ausflug in niedrige Gedichte. Vergnuͤgt, wenn die Ungelehrten von ihr lernen ihre Maͤngel zu erkennen, und die Gelehrten, dem was ſie bereits wiſſen, weiters nach- zudenken. Das Tadeln hat ſie nie bekuͤmmert, und der Ruhm nie zu ſehr gereizet. Sie erfreuet ſich, wenn ſie loben kan, und iſt nicht furchtſam zu ſtrafen. Schmei- cheln und Beleidigen ſind ihr gleich ſehr zuwider, und wie ſie nicht ohne Fehler iſt, ſo ſchaͤmet ſie ſich auch nicht, ſich zu beſſern. Von (q) Eßay on poetry by the Duke of Buckingham.

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/100>, abgerufen am 21.11.2024.