[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.eines Kunstrichters. Unter allen Ursachen, welche der Menschen Ein seichtes Wissen ist gefährlich. Schöpfet die
eines Kunſtrichters. Unter allen Urſachen, welche der Menſchen Ein ſeichtes Wiſſen iſt gefaͤhrlich. Schoͤpfet die
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0077" n="61"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">eines Kunſtrichters.</hi> </fw><lb/> <p>Unter allen Urſachen, welche der Menſchen<lb/> fehlbares Urtheil verblenden, und den Verſtand<lb/> misleiten, iſt keine, die ein ſchwaches Haupt<lb/> gewaltſamer beherrſchet, als der Hochmuth, ein<lb/> unausbleiblicher Fehler der Thoren. Was im-<lb/> mer die Natur an wahrem Werthe verſaget, das<lb/> erſezet ſie mit einer Fuͤlle von duͤrftigem Stolze.<lb/> Es gehet in den Seelen zu, wie in den Leibern.<lb/> Wo Blut und Geiſter fehlen, da ſtrozet es von<lb/> Winden. Und wo der Witz mangelt, da kommt<lb/> uns der Hochmuth zu Huͤlfe, und fuͤllt die gantze<lb/> vernunftloſe Einoͤde aus. Doch wenn der Ver-<lb/> ſtand einmal dieſe Wolcke verjaget hat, ſo bricht<lb/> die Wahrheit herein mit einem unwiderſtaͤndlichen<lb/> Lichte. Trauet euch dahero ſelbſten nicht, ſon-<lb/> dern machet euch jeden Freund, ja jeden Feind<lb/> zu Nuze, um eure Fehler zu erkennen.</p><lb/> <p>Ein ſeichtes Wiſſen iſt gefaͤhrlich. Schoͤpfet<lb/> tief aus dem Brunnen der Pierinnen, oder laſſet<lb/> ihn gar ungekoſtet. Trincken wir nur oben herab,<lb/> ſo bringt es den Schwindel ins Gehirne, aber<lb/> ſtarcke Zuͤge machen uns wider nuͤchtern. Die<lb/> Gaben der Muſen entzuͤnden uns beym erſten An-<lb/> blicke ſo ſehr, daß wir in unſrer verwegenen Ju-<lb/> gend ſogleich vermeinen, den Gipfel der Wiſſen-<lb/> ſchaften zu erſteigen. Denn unſer beſchraͤnckter<lb/> Geſichtskreis entdecket uns gar zu wenig, und<lb/> laͤßt uns die hinter ihm verborgene Weiten nicht<lb/> erkennen. Aber wenn wir weit er kommen, ſo<lb/> ſehen wir mit Erſtaunen, wie immer neue Schau-<lb/> plaͤtze unendlicher Wiſſenſchaften ſich hinter einan-<lb/> der entdecken. Eben ſo fangen wir freudig an,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [61/0077]
eines Kunſtrichters.
Unter allen Urſachen, welche der Menſchen
fehlbares Urtheil verblenden, und den Verſtand
misleiten, iſt keine, die ein ſchwaches Haupt
gewaltſamer beherrſchet, als der Hochmuth, ein
unausbleiblicher Fehler der Thoren. Was im-
mer die Natur an wahrem Werthe verſaget, das
erſezet ſie mit einer Fuͤlle von duͤrftigem Stolze.
Es gehet in den Seelen zu, wie in den Leibern.
Wo Blut und Geiſter fehlen, da ſtrozet es von
Winden. Und wo der Witz mangelt, da kommt
uns der Hochmuth zu Huͤlfe, und fuͤllt die gantze
vernunftloſe Einoͤde aus. Doch wenn der Ver-
ſtand einmal dieſe Wolcke verjaget hat, ſo bricht
die Wahrheit herein mit einem unwiderſtaͤndlichen
Lichte. Trauet euch dahero ſelbſten nicht, ſon-
dern machet euch jeden Freund, ja jeden Feind
zu Nuze, um eure Fehler zu erkennen.
Ein ſeichtes Wiſſen iſt gefaͤhrlich. Schoͤpfet
tief aus dem Brunnen der Pierinnen, oder laſſet
ihn gar ungekoſtet. Trincken wir nur oben herab,
ſo bringt es den Schwindel ins Gehirne, aber
ſtarcke Zuͤge machen uns wider nuͤchtern. Die
Gaben der Muſen entzuͤnden uns beym erſten An-
blicke ſo ſehr, daß wir in unſrer verwegenen Ju-
gend ſogleich vermeinen, den Gipfel der Wiſſen-
ſchaften zu erſteigen. Denn unſer beſchraͤnckter
Geſichtskreis entdecket uns gar zu wenig, und
laͤßt uns die hinter ihm verborgene Weiten nicht
erkennen. Aber wenn wir weit er kommen, ſo
ſehen wir mit Erſtaunen, wie immer neue Schau-
plaͤtze unendlicher Wiſſenſchaften ſich hinter einan-
der entdecken. Eben ſo fangen wir freudig an,
die
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