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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741.

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Ode über die Unsterblichkeit der Seele.
BEherrscherin von meiner Hütte!(a)
Dein Cörper eilt zur langen Ruh, (b)
Es nah't sich ihm mit schnellem Schritte (c)
Die Herrschaft der Verwesung zu.
Kaum
(a) Anmerckungen.
Jn diesem gantzen Gedichte ist die Absicht des
Philosophischen Poeten, Hrn. Hofrath Drollingers, das
Geschicke der Seele und des Cörpers nach ihrer Tren-
nung, das aus der ungleichen Natur dieser beyden Theile
herfließt, aus poetischen d. i. wahrscheinlichen Gründen
zu bestimmen, und auf eine poetische d. i. gantz lebhafte
und sinnliche Weise auszuführen. Nach dieser Absicht
müssen wir nun die Kunst des Poeten prüffen. Derselben
gemäß ist die erste Zeile sehr geschickt ausgebildet, da sie
euch in einem künstlich gewehleten Bilde nicht nur die
Verbindung dieser zwey Wesen, sondern auch die Ursache
und den Grund ihrer Verbindung, und, welches das
vornehmste ist, die grosse Verschiedenheit ihrer Natur
vorstellet, wenn sie den Cörper als etwas mechani-
sches unter dem Bilde einer Hütte, die Seele aber als
eine mit Verstande und Klugheit begabte Beherrscherin
zu betrachten vorleget. Denn wie es keine natürliche Fol-
ge ist, wenn eine Machine durch Abnutzung und Verschleis-
sung, oder durch einen gewaltsamen Zufall zusammen-
fällt, daß derjenige Verstand, der sie in ihren mechani-
schen Wirckungen nach gewissen Absichten dirigirt hat-
mit in das Verderben hingerissen werde, so ist es nich,
weniger ungereimt, die Seele in die Zerstöhrung des Cört
pers mit einzuflechten. Also ist diese periphrastische Anre-
de und Beschreibung der Seele nicht gleichgültig; son-
dern sie hat ihre Nothwendigkeit in der Absicht des Poe-
ten, und man kan mit Grunde sagen, das gantze Ge-
dichte sey eine blosse Entwickelung derjenigen Saamen-
Körner, die in diesen fruchtbaren Jdeen eingeschlossen
sind.
(b) Anmerckungen.
Nachdem ich in der vorhergehenden Anmerckung
die Nothwendigkeit und den Grund der Umschreibung der
Seele in der ersten Zeile aufgedecket habe, so habe ich da-
mit auch denjenigen genug gethan, die sich bereden wol-
len, der Poet, wenn er in der zweyten Zeile ausser der
Figur von dem Cörper der Seele redet, verführe den Le-
ser auf den Wahn, als wenn die Hütte, die sie beherr-
schet, und der Cörper, zwey gantz verschiedene Dinge wä-
ren. Denn wenn man die erste Zeile als eine nothwendi-
ge poetische Umschreibung der Seele, die ihre Absicht auf
das gantze Gedicht hat, aufnimmt, so kan dieser Betrug
nicht mehr Platz haben.
(c) Der Poet hätte nach der gemeinen und gewohnten
Art zu reden sagen können:
Er nahet sich mit schnellem Schritte,
Der Herrschaft der Verwesung zu.
Aber er wollte sich hier seines poetischen Vorrechts, das
ungemeine dem gemeinen vorzuziehen, nicht begeben, noch
diese Gelegenheit, durch eine kleine Veränderung die Auf-
mercksamkeit des Lesers zu schärffen, vorbeygehen. Aus-
serdem hat diese Veränderung auch mehr Licht und Nach-
druck, als die gemeine Redensart: Es nahet sich alles
der Verwesung;
oder: Es gehet alles mit starcken
Schritten nach der Verwesung;
massen sie uns die Ver-
wesung
als eine Person vorstellet, ihr eine Herrschaft zu-
leget, und eine Begierde und Bemühung die Gräntzen
derselben immer weiter auszubreiten.
M 3
Ode uͤber die Unſterblichkeit der Seele.
BEherrſcherin von meiner Huͤtte!(a)
Dein Coͤrper eilt zur langen Ruh, (b)
Es nah’t ſich ihm mit ſchnellem Schritte (c)
Die Herrſchaft der Verweſung zu.
Kaum
(a) Anmerckungen.
Jn dieſem gantzen Gedichte iſt die Abſicht des
Philoſophiſchen Poeten, Hrn. Hofrath Drollingers, das
Geſchicke der Seele und des Coͤrpers nach ihrer Tren-
nung, das aus der ungleichen Natur dieſer beyden Theile
herfließt, aus poetiſchen d. i. wahrſcheinlichen Gruͤnden
zu beſtimmen, und auf eine poetiſche d. i. gantz lebhafte
und ſinnliche Weiſe auszufuͤhren. Nach dieſer Abſicht
muͤſſen wir nun die Kunſt des Poeten pruͤffen. Derſelben
gemaͤß iſt die erſte Zeile ſehr geſchickt ausgebildet, da ſie
euch in einem kuͤnſtlich gewehleten Bilde nicht nur die
Verbindung dieſer zwey Weſen, ſondern auch die Urſache
und den Grund ihrer Verbindung, und, welches das
vornehmſte iſt, die groſſe Verſchiedenheit ihrer Natur
vorſtellet, wenn ſie den Coͤrper als etwas mechani-
ſches unter dem Bilde einer Huͤtte, die Seele aber als
eine mit Verſtande und Klugheit begabte Beherrſcherin
zu betrachten vorleget. Denn wie es keine natuͤrliche Fol-
ge iſt, wenn eine Machine durch Abnutzung und Verſchleiſ-
ſung, oder durch einen gewaltſamen Zufall zuſammen-
faͤllt, daß derjenige Verſtand, der ſie in ihren mechani-
ſchen Wirckungen nach gewiſſen Abſichten dirigirt hat-
mit in das Verderben hingeriſſen werde, ſo iſt es nich,
weniger ungereimt, die Seele in die Zerſtoͤhrung des Coͤrt
pers mit einzuflechten. Alſo iſt dieſe periphraſtiſche Anre-
de und Beſchreibung der Seele nicht gleichguͤltig; ſon-
dern ſie hat ihre Nothwendigkeit in der Abſicht des Poe-
ten, und man kan mit Grunde ſagen, das gantze Ge-
dichte ſey eine bloſſe Entwickelung derjenigen Saamen-
Koͤrner, die in dieſen fruchtbaren Jdeen eingeſchloſſen
ſind.
(b) Anmerckungen.
Nachdem ich in der vorhergehenden Anmerckung
die Nothwendigkeit und den Grund der Umſchreibung der
Seele in der erſten Zeile aufgedecket habe, ſo habe ich da-
mit auch denjenigen genug gethan, die ſich bereden wol-
len, der Poet, wenn er in der zweyten Zeile auſſer der
Figur von dem Coͤrper der Seele redet, verfuͤhre den Le-
ſer auf den Wahn, als wenn die Huͤtte, die ſie beherr-
ſchet, und der Coͤrper, zwey gantz verſchiedene Dinge waͤ-
ren. Denn wenn man die erſte Zeile als eine nothwendi-
ge poetiſche Umſchreibung der Seele, die ihre Abſicht auf
das gantze Gedicht hat, aufnimmt, ſo kan dieſer Betrug
nicht mehr Platz haben.
(c) Der Poet haͤtte nach der gemeinen und gewohnten
Art zu reden ſagen koͤnnen:
Er nahet ſich mit ſchnellem Schritte,
Der Herrſchaft der Verweſung zu.
Aber er wollte ſich hier ſeines poetiſchen Vorrechts, das
ungemeine dem gemeinen vorzuziehen, nicht begeben, noch
dieſe Gelegenheit, durch eine kleine Veraͤnderung die Auf-
merckſamkeit des Leſers zu ſchaͤrffen, vorbeygehen. Auſ-
ſerdem hat dieſe Veraͤnderung auch mehr Licht und Nach-
druck, als die gemeine Redensart: Es nahet ſich alles
der Verweſung;
oder: Es gehet alles mit ſtarcken
Schritten nach der Verweſung;
maſſen ſie uns die Ver-
weſung
als eine Perſon vorſtellet, ihr eine Herrſchaft zu-
leget, und eine Begierde und Bemuͤhung die Graͤntzen
derſelben immer weiter auszubreiten.
M 3
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[181/0183] Ode uͤber die Unſterblichkeit der Seele. BEherrſcherin von meiner Huͤtte! (a) Dein Coͤrper eilt zur langen Ruh, (b) Es nah’t ſich ihm mit ſchnellem Schritte (c) Die Herrſchaft der Verweſung zu. Kaum (a) Anmerckungen. Jn dieſem gantzen Gedichte iſt die Abſicht des Philoſophiſchen Poeten, Hrn. Hofrath Drollingers, das Geſchicke der Seele und des Coͤrpers nach ihrer Tren- nung, das aus der ungleichen Natur dieſer beyden Theile herfließt, aus poetiſchen d. i. wahrſcheinlichen Gruͤnden zu beſtimmen, und auf eine poetiſche d. i. gantz lebhafte und ſinnliche Weiſe auszufuͤhren. Nach dieſer Abſicht muͤſſen wir nun die Kunſt des Poeten pruͤffen. Derſelben gemaͤß iſt die erſte Zeile ſehr geſchickt ausgebildet, da ſie euch in einem kuͤnſtlich gewehleten Bilde nicht nur die Verbindung dieſer zwey Weſen, ſondern auch die Urſache und den Grund ihrer Verbindung, und, welches das vornehmſte iſt, die groſſe Verſchiedenheit ihrer Natur vorſtellet, wenn ſie den Coͤrper als etwas mechani- ſches unter dem Bilde einer Huͤtte, die Seele aber als eine mit Verſtande und Klugheit begabte Beherrſcherin zu betrachten vorleget. Denn wie es keine natuͤrliche Fol- ge iſt, wenn eine Machine durch Abnutzung und Verſchleiſ- ſung, oder durch einen gewaltſamen Zufall zuſammen- faͤllt, daß derjenige Verſtand, der ſie in ihren mechani- ſchen Wirckungen nach gewiſſen Abſichten dirigirt hat- mit in das Verderben hingeriſſen werde, ſo iſt es nich, weniger ungereimt, die Seele in die Zerſtoͤhrung des Coͤrt pers mit einzuflechten. Alſo iſt dieſe periphraſtiſche Anre- de und Beſchreibung der Seele nicht gleichguͤltig; ſon- dern ſie hat ihre Nothwendigkeit in der Abſicht des Poe- ten, und man kan mit Grunde ſagen, das gantze Ge- dichte ſey eine bloſſe Entwickelung derjenigen Saamen- Koͤrner, die in dieſen fruchtbaren Jdeen eingeſchloſſen ſind. (b) Anmerckungen. Nachdem ich in der vorhergehenden Anmerckung die Nothwendigkeit und den Grund der Umſchreibung der Seele in der erſten Zeile aufgedecket habe, ſo habe ich da- mit auch denjenigen genug gethan, die ſich bereden wol- len, der Poet, wenn er in der zweyten Zeile auſſer der Figur von dem Coͤrper der Seele redet, verfuͤhre den Le- ſer auf den Wahn, als wenn die Huͤtte, die ſie beherr- ſchet, und der Coͤrper, zwey gantz verſchiedene Dinge waͤ- ren. Denn wenn man die erſte Zeile als eine nothwendi- ge poetiſche Umſchreibung der Seele, die ihre Abſicht auf das gantze Gedicht hat, aufnimmt, ſo kan dieſer Betrug nicht mehr Platz haben. (c) Der Poet haͤtte nach der gemeinen und gewohnten Art zu reden ſagen koͤnnen: Er nahet ſich mit ſchnellem Schritte, Der Herrſchaft der Verweſung zu. Aber er wollte ſich hier ſeines poetiſchen Vorrechts, das ungemeine dem gemeinen vorzuziehen, nicht begeben, noch dieſe Gelegenheit, durch eine kleine Veraͤnderung die Auf- merckſamkeit des Leſers zu ſchaͤrffen, vorbeygehen. Auſ- ſerdem hat dieſe Veraͤnderung auch mehr Licht und Nach- druck, als die gemeine Redensart: Es nahet ſich alles der Verweſung; oder: Es gehet alles mit ſtarcken Schritten nach der Verweſung; maſſen ſie uns die Ver- weſung als eine Perſon vorſtellet, ihr eine Herrſchaft zu- leget, und eine Begierde und Bemuͤhung die Graͤntzen derſelben immer weiter auszubreiten. M 3

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung02_1741/183>, abgerufen am 21.11.2024.