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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 3. Zürich, 1742.

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von gelehrten Schriften.
Stück unter die Proben des deutschen Witzes in
seine Sammlung aufgenommen hat: Denn in
dem Jahr 1736. als er die Gottschedischen Gedich-
te herausgegeben, hat er in der lustigen Vorrede,
womit er diese Gedichte anbefehlen wollen, sehr
verächtlich von den Schäfergedichten geurtheilet.
Er hat gesagt:

"Es wird dich nicht wenig Wun-
"der nehmen, geliebter Leser! daß du hier den
"Titel, Schäfergedichte, nicht gewahr wirst.
"Wundere dich aber darüber nicht; du weist,
"daß ein Dichter die Natur zum Vorbilde hat,
"und nur deren Schönheiten nachzuahmen sucht.
"Wo zeigt aber izt die Natur das alte Schäfer-
"leben? Wo herrscht die Unschuld, die darin-
"nen vorkommen soll? Wo ist die güldene Frey-
"heit, die reine Liebe und die tugendhafte Ein-
"falt, die das Wesen derselben sind? Wie kan
"nun ein Dichter das wieder vorstellen, was er
"nirgends mehr erblickt? Gebt uns erst das al-
"les wieder, dann wollen wir euch Schäferlie-
"der genug singen: Jzt verzeiht es uns nur, daß
"wir euch mit keinen Hirngeburten unterhalten,
"denen ihr doch nicht ähnlich seyn wollt."

Der
gute Mann muß damahls noch geglaubt haben,
ein Dichter brauche nichts weiter als gute Augen;
er dörffe die Sachen nicht vorstellen, wie sie in
andern als den gegenwärtigen Umständen seyn
könnten; sondern nur wie sie wircklich seyn; die
Natur habe alle ihre Kräfte gäntzlich erschöpft,
und also stehe nichts mehrers in ihrem Vermögen,
als was sich aus ihren Wirkungen erzeiget, d. i.
ein Poet sey kein Dichter, sondern ein blosser Hi-
storicus der Natur. Allein wer dieses Gedichtes

welche,

von gelehrten Schriften.
Stuͤck unter die Proben des deutſchen Witzes in
ſeine Sammlung aufgenommen hat: Denn in
dem Jahr 1736. als er die Gottſchediſchen Gedich-
te herausgegeben, hat er in der luſtigen Vorrede,
womit er dieſe Gedichte anbefehlen wollen, ſehr
veraͤchtlich von den Schaͤfergedichten geurtheilet.
Er hat geſagt:

„Es wird dich nicht wenig Wun-
„der nehmen, geliebter Leſer! daß du hier den
„Titel, Schaͤfergedichte, nicht gewahr wirſt.
„Wundere dich aber daruͤber nicht; du weiſt,
„daß ein Dichter die Natur zum Vorbilde hat,
„und nur deren Schoͤnheiten nachzuahmen ſucht.
„Wo zeigt aber izt die Natur das alte Schaͤfer-
„leben? Wo herrſcht die Unſchuld, die darin-
„nen vorkommen ſoll? Wo iſt die guͤldene Frey-
„heit, die reine Liebe und die tugendhafte Ein-
„falt, die das Weſen derſelben ſind? Wie kan
„nun ein Dichter das wieder vorſtellen, was er
„nirgends mehr erblickt? Gebt uns erſt das al-
„les wieder, dann wollen wir euch Schaͤferlie-
„der genug ſingen: Jzt verzeiht es uns nur, daß
„wir euch mit keinen Hirngeburten unterhalten,
„denen ihr doch nicht aͤhnlich ſeyn wollt.„

Der
gute Mann muß damahls noch geglaubt haben,
ein Dichter brauche nichts weiter als gute Augen;
er doͤrffe die Sachen nicht vorſtellen, wie ſie in
andern als den gegenwaͤrtigen Umſtaͤnden ſeyn
koͤnnten; ſondern nur wie ſie wircklich ſeyn; die
Natur habe alle ihre Kraͤfte gaͤntzlich erſchoͤpft,
und alſo ſtehe nichts mehrers in ihrem Vermoͤgen,
als was ſich aus ihren Wirkungen erzeiget, d. i.
ein Poet ſey kein Dichter, ſondern ein bloſſer Hi-
ſtoricus der Natur. Allein wer dieſes Gedichtes

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[157/0159] von gelehrten Schriften. Stuͤck unter die Proben des deutſchen Witzes in ſeine Sammlung aufgenommen hat: Denn in dem Jahr 1736. als er die Gottſchediſchen Gedich- te herausgegeben, hat er in der luſtigen Vorrede, womit er dieſe Gedichte anbefehlen wollen, ſehr veraͤchtlich von den Schaͤfergedichten geurtheilet. Er hat geſagt: „Es wird dich nicht wenig Wun- „der nehmen, geliebter Leſer! daß du hier den „Titel, Schaͤfergedichte, nicht gewahr wirſt. „Wundere dich aber daruͤber nicht; du weiſt, „daß ein Dichter die Natur zum Vorbilde hat, „und nur deren Schoͤnheiten nachzuahmen ſucht. „Wo zeigt aber izt die Natur das alte Schaͤfer- „leben? Wo herrſcht die Unſchuld, die darin- „nen vorkommen ſoll? Wo iſt die guͤldene Frey- „heit, die reine Liebe und die tugendhafte Ein- „falt, die das Weſen derſelben ſind? Wie kan „nun ein Dichter das wieder vorſtellen, was er „nirgends mehr erblickt? Gebt uns erſt das al- „les wieder, dann wollen wir euch Schaͤferlie- „der genug ſingen: Jzt verzeiht es uns nur, daß „wir euch mit keinen Hirngeburten unterhalten, „denen ihr doch nicht aͤhnlich ſeyn wollt.„ Der gute Mann muß damahls noch geglaubt haben, ein Dichter brauche nichts weiter als gute Augen; er doͤrffe die Sachen nicht vorſtellen, wie ſie in andern als den gegenwaͤrtigen Umſtaͤnden ſeyn koͤnnten; ſondern nur wie ſie wircklich ſeyn; die Natur habe alle ihre Kraͤfte gaͤntzlich erſchoͤpft, und alſo ſtehe nichts mehrers in ihrem Vermoͤgen, als was ſich aus ihren Wirkungen erzeiget, d. i. ein Poet ſey kein Dichter, ſondern ein bloſſer Hi- ſtoricus der Natur. Allein wer dieſes Gedichtes welche,

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 3. Zürich, 1742, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung03_1742/159>, abgerufen am 24.11.2024.