[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.Von den glücklichen Umständen uns genöthiget, eine Seriem natürlicherer Sittenan uns zu nehmen, welche uns doch gantz frem- de sind, und so wie Pflantzen in Zwingbeten zu- wegegebracht werden müssen. Ja es ist so fern, daß wir die Poesie mit neuen Bildern, die von der Natur gehohlet seyn, bereichern, daß wir mit schwerer Mühe die alten noch verstehen. Wir leben hinter dem Ofen, und gleichsam vor dem Angesichte der Natur verborgen. Wir lassen unsre Tage in einer tieffen Unerkenntniß ihrer Schönheiten vorbeystreichen. Wir denken gerne, die Gleichnisse, so von ihr hergenommen sind, seyn niedrig, und die alten Sitten gemein oder ungereimt. Aber lasset uns aufrichtig seyn, und bekennen, daß die neuern Poeten in der Zeit, da sie nur den Pomp bewundern, und nichts vor Groß oder Schön gelten lassen, als was durch Reichthum zuwegegebracht wird, sich selber die angenehmsten und natürlichsten Bilder vorenthal- ten, welche die alte Poesie ausgeschmüket haben. Staat und Schön verstellen den Menschen; und Reichthum und Ueppigkeit verstellen die Natur. Jhre Wirkungen sind in den Beschreibungen wie diese Ursachen. Eine grosse Procession läßt sich nicht mit sonderlicher Lust lesen, wenn sie bis auf die klei- nen Umstände, und der Länge nach beschrieben wird; und grosse Cerimonien sind in einem Gedichte zum wenigsten eben so verdrüßlich, als in dem ge- wöhnlichen Umgange. Es ist eine alte Klage, daß wir gerne alle Din- Deken
Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden uns genoͤthiget, eine Seriem natuͤrlicherer Sittenan uns zu nehmen, welche uns doch gantz frem- de ſind, und ſo wie Pflantzen in Zwingbeten zu- wegegebracht werden muͤſſen. Ja es iſt ſo fern, daß wir die Poeſie mit neuen Bildern, die von der Natur gehohlet ſeyn, bereichern, daß wir mit ſchwerer Muͤhe die alten noch verſtehen. Wir leben hinter dem Ofen, und gleichſam vor dem Angeſichte der Natur verborgen. Wir laſſen unſre Tage in einer tieffen Unerkenntniß ihrer Schoͤnheiten vorbeyſtreichen. Wir denken gerne, die Gleichniſſe, ſo von ihr hergenommen ſind, ſeyn niedrig, und die alten Sitten gemein oder ungereimt. Aber laſſet uns aufrichtig ſeyn, und bekennen, daß die neuern Poeten in der Zeit, da ſie nur den Pomp bewundern, und nichts vor Groß oder Schoͤn gelten laſſen, als was durch Reichthum zuwegegebracht wird, ſich ſelber die angenehmſten und natuͤrlichſten Bilder vorenthal- ten, welche die alte Poeſie ausgeſchmuͤket haben. Staat und Schoͤn verſtellen den Menſchen; und Reichthum und Ueppigkeit verſtellen die Natur. Jhre Wirkungen ſind in den Beſchreibungen wie dieſe Urſachen. Eine groſſe Proceſſion laͤßt ſich nicht mit ſonderlicher Luſt leſen, wenn ſie bis auf die klei- nen Umſtaͤnde, und der Laͤnge nach beſchrieben wird; und groſſe Cerimonien ſind in einem Gedichte zum wenigſten eben ſo verdruͤßlich, als in dem ge- woͤhnlichen Umgange. Es iſt eine alte Klage, daß wir gerne alle Din- Deken
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Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
uns genoͤthiget, eine Seriem natuͤrlicherer Sitten
an uns zu nehmen, welche uns doch gantz frem-
de ſind, und ſo wie Pflantzen in Zwingbeten zu-
wegegebracht werden muͤſſen. Ja es iſt ſo fern,
daß wir die Poeſie mit neuen Bildern, die von
der Natur gehohlet ſeyn, bereichern, daß wir mit
ſchwerer Muͤhe die alten noch verſtehen. Wir
leben hinter dem Ofen, und gleichſam vor dem
Angeſichte der Natur verborgen. Wir laſſen
unſre Tage in einer tieffen Unerkenntniß ihrer
Schoͤnheiten vorbeyſtreichen. Wir denken gerne,
die Gleichniſſe, ſo von ihr hergenommen ſind,
ſeyn niedrig, und die alten Sitten gemein oder
ungereimt. Aber laſſet uns aufrichtig ſeyn, und
bekennen, daß die neuern Poeten in der Zeit, da
ſie nur den Pomp bewundern, und nichts vor
Groß oder Schoͤn gelten laſſen, als was durch
Reichthum zuwegegebracht wird, ſich ſelber die
angenehmſten und natuͤrlichſten Bilder vorenthal-
ten, welche die alte Poeſie ausgeſchmuͤket haben.
Staat und Schoͤn verſtellen den Menſchen; und
Reichthum und Ueppigkeit verſtellen die Natur.
Jhre Wirkungen ſind in den Beſchreibungen wie
dieſe Urſachen. Eine groſſe Proceſſion laͤßt ſich nicht
mit ſonderlicher Luſt leſen, wenn ſie bis auf die klei-
nen Umſtaͤnde, und der Laͤnge nach beſchrieben
wird; und groſſe Cerimonien ſind in einem Gedichte
zum wenigſten eben ſo verdruͤßlich, als in dem ge-
woͤhnlichen Umgange.
Es iſt eine alte Klage, daß wir gerne alle Din-
ge verkleiden, und mehr als alle andere Dinge
uns ſelbſt. Alle unſre Titel und Vorrechte ſind
Deken
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