[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.Von der Poesie gessen worden. Diese hat eine so starcke Ver-änderung erlitten, daß unsre heutige kaum meh- rere Lineamente von derselben behalten hat, als einem Enkel von den Gesichteszügen des Ahnen übrig bleiben. Wenn gleich die Worte selbst öfters noch vorhanden sind, und nur in der Aus- sprache eine geringe oder gar keine Veränderung erlitten haben, so haben sie doch eine eingeschränk- tere oder eine weitläuftigere Bedeutung bekommen, oder haben wenigstens in dem Munde des Pö- bels, von welchem sie durch die Länge der Zeit entweihet worden, eine gewisse Niedrigkeit em- pfangen. Man liebete zu ihren Zeiten die Ver- schlückungen der Buchstaben und der Sylben, welcher sie vielleicht durch die zarte Aussprache wieder zu helffen wusten; wie noch auf disen Tag die Engelländer thun, welche eben so gerne, als unsre Urahnen, die Worte zu stümmeln pflegen, und doch diesen gestümmelten Wörtern in der Aussprache so gut zu helffen wissen, daß ihre Sprache mit allen ihren einsylbigten zusammen- geschmoltzenen Wörtern der unsrigen, welche sich über diesen Punct gebessert, und die Neigung zum stümmeln verlohren hat, an sanftfliessendem Wohl- laut nichts nachgeben will. Nichts von dem Syl- benmaasse, der beständig gleichen Abwechselung der kurtzen und langen Sylben, den sorgfälti- gen Reimen, und dergleichen Dingen zu sagen, in welchen die Dichtkunst zu unsern Zeiten sich von der Poesie der vorigen Jahrhundert gäntzlich entfehrnet hat. Wenn wir alle diese Sachen auf eine Seite stellen, und uns daneben insbesondere die
Von der Poeſie geſſen worden. Dieſe hat eine ſo ſtarcke Ver-aͤnderung erlitten, daß unſre heutige kaum meh- rere Lineamente von derſelben behalten hat, als einem Enkel von den Geſichteszuͤgen des Ahnen uͤbrig bleiben. Wenn gleich die Worte ſelbſt oͤfters noch vorhanden ſind, und nur in der Aus- ſprache eine geringe oder gar keine Veraͤnderung erlitten haben, ſo haben ſie doch eine eingeſchraͤnk- tere oder eine weitlaͤuftigere Bedeutung bekommen, oder haben wenigſtens in dem Munde des Poͤ- bels, von welchem ſie durch die Laͤnge der Zeit entweihet worden, eine gewiſſe Niedrigkeit em- pfangen. Man liebete zu ihren Zeiten die Ver- ſchluͤckungen der Buchſtaben und der Sylben, welcher ſie vielleicht durch die zarte Ausſprache wieder zu helffen wuſten; wie noch auf diſen Tag die Engellaͤnder thun, welche eben ſo gerne, als unſre Urahnen, die Worte zu ſtuͤmmeln pflegen, und doch dieſen geſtuͤmmelten Woͤrtern in der Ausſprache ſo gut zu helffen wiſſen, daß ihre Sprache mit allen ihren einſylbigten zuſammen- geſchmoltzenen Woͤrtern der unſrigen, welche ſich uͤber dieſen Punct gebeſſert, und die Neigung zum ſtuͤmmeln verlohren hat, an ſanftflieſſendem Wohl- laut nichts nachgeben will. Nichts von dem Syl- benmaaſſe, der beſtaͤndig gleichen Abwechſelung der kurtzen und langen Sylben, den ſorgfaͤlti- gen Reimen, und dergleichen Dingen zu ſagen, in welchen die Dichtkunſt zu unſern Zeiten ſich von der Poeſie der vorigen Jahrhundert gaͤntzlich entfehrnet hat. Wenn wir alle dieſe Sachen auf eine Seite ſtellen, und uns daneben insbeſondere die
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Von der Poeſie
geſſen worden. Dieſe hat eine ſo ſtarcke Ver-
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rere Lineamente von derſelben behalten hat, als
einem Enkel von den Geſichteszuͤgen des Ahnen
uͤbrig bleiben. Wenn gleich die Worte ſelbſt
oͤfters noch vorhanden ſind, und nur in der Aus-
ſprache eine geringe oder gar keine Veraͤnderung
erlitten haben, ſo haben ſie doch eine eingeſchraͤnk-
tere oder eine weitlaͤuftigere Bedeutung bekommen,
oder haben wenigſtens in dem Munde des Poͤ-
bels, von welchem ſie durch die Laͤnge der Zeit
entweihet worden, eine gewiſſe Niedrigkeit em-
pfangen. Man liebete zu ihren Zeiten die Ver-
ſchluͤckungen der Buchſtaben und der Sylben,
welcher ſie vielleicht durch die zarte Ausſprache
wieder zu helffen wuſten; wie noch auf diſen Tag
die Engellaͤnder thun, welche eben ſo gerne, als
unſre Urahnen, die Worte zu ſtuͤmmeln pflegen,
und doch dieſen geſtuͤmmelten Woͤrtern in der
Ausſprache ſo gut zu helffen wiſſen, daß ihre
Sprache mit allen ihren einſylbigten zuſammen-
geſchmoltzenen Woͤrtern der unſrigen, welche ſich
uͤber dieſen Punct gebeſſert, und die Neigung zum
ſtuͤmmeln verlohren hat, an ſanftflieſſendem Wohl-
laut nichts nachgeben will. Nichts von dem Syl-
benmaaſſe, der beſtaͤndig gleichen Abwechſelung
der kurtzen und langen Sylben, den ſorgfaͤlti-
gen Reimen, und dergleichen Dingen zu ſagen,
in welchen die Dichtkunſt zu unſern Zeiten ſich
von der Poeſie der vorigen Jahrhundert gaͤntzlich
entfehrnet hat. Wenn wir alle dieſe Sachen auf
eine Seite ſtellen, und uns daneben insbeſondere
die
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