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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743.

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von den Chören.
Handlung, als die Handlung eines Trauerspie-
les seyn soll, Gesänge, Lieder und Täntze zu un-
termischen? Jsts nicht lächerlich, daß man drohe,
klage, sterbe, indem man singt; und daß ein Trupp
Leute, die von Furcht oder Schrecken eingenom-
men sind, diese verschiedenen Empfindungen mit-
telst der Täntze an den Tag lege? Die also reden,
geben nicht recht Achtung auf die Natur des
Trauerspieles, es ist zwar eine Nachahmung ei-
ner ernstlichen Handlung, aber es ist nicht allein
eine Nachahmung, sondern auch ein Gedichte,
und ein Gedichte, das ein Schauspiel werden soll.
Als ein Gedichte schmückt es sich mit allem demje-
nigen aus, was am bequemsten ist, die Phantasie
zu entzücken, und das Ohr zu bezaubern; als ein
Schauspiel trachtet es vor allen andern den Augen
zu gefallen, und man muß sich bißweilen von der
Wahrscheinlichkeit ein wenig entfernen, damit man
desto besser gefalle. Alsdann kan der Geist, der
durch einen mächtigern Reitz geblendet wird, nicht
wahrnehmen, daß man ihn betriegt, und überlie-
fert sich, so groß er ist, dem Ergetzen, das man ihm
gewähret. Aus dieser Ursache räumt man dem
Wunderbaren in dem Epischen Gedichte einen
Platz ein; und aus dieser Ursache hat die Fabel
selbst, die von Wahrscheinlichkeit entblößt ist, so
viel Annehmlichkeit. Die Nachahmungen, wel-
che am meisten Aehnlichkeit mit den nachgemach-
ten Sachen haben, sind nicht die vollkommensten
Wercke der Kunst; diejenigen, welche auf die voll-
kommenste Art nachahmen, müssen billig den Vor-
zug vor den andern bekommen. Eine Statue von

Ertz
F 5

von den Choͤren.
Handlung, als die Handlung eines Trauerſpie-
les ſeyn ſoll, Geſaͤnge, Lieder und Taͤntze zu un-
termiſchen? Jſts nicht laͤcherlich, daß man drohe,
klage, ſterbe, indem man ſingt; und daß ein Trupp
Leute, die von Furcht oder Schrecken eingenom-
men ſind, dieſe verſchiedenen Empfindungen mit-
telſt der Taͤntze an den Tag lege? Die alſo reden,
geben nicht recht Achtung auf die Natur des
Trauerſpieles, es iſt zwar eine Nachahmung ei-
ner ernſtlichen Handlung, aber es iſt nicht allein
eine Nachahmung, ſondern auch ein Gedichte,
und ein Gedichte, das ein Schauſpiel werden ſoll.
Als ein Gedichte ſchmuͤckt es ſich mit allem demje-
nigen aus, was am bequemſten iſt, die Phantaſie
zu entzuͤcken, und das Ohr zu bezaubern; als ein
Schauſpiel trachtet es vor allen andern den Augen
zu gefallen, und man muß ſich bißweilen von der
Wahrſcheinlichkeit ein wenig entfernen, damit man
deſto beſſer gefalle. Alsdann kan der Geiſt, der
durch einen maͤchtigern Reitz geblendet wird, nicht
wahrnehmen, daß man ihn betriegt, und uͤberlie-
fert ſich, ſo groß er iſt, dem Ergetzen, das man ihm
gewaͤhret. Aus dieſer Urſache raͤumt man dem
Wunderbaren in dem Epiſchen Gedichte einen
Platz ein; und aus dieſer Urſache hat die Fabel
ſelbſt, die von Wahrſcheinlichkeit entbloͤßt iſt, ſo
viel Annehmlichkeit. Die Nachahmungen, wel-
che am meiſten Aehnlichkeit mit den nachgemach-
ten Sachen haben, ſind nicht die vollkommenſten
Wercke der Kunſt; diejenigen, welche auf die voll-
kommenſte Art nachahmen, muͤſſen billig den Vor-
zug vor den andern bekommen. Eine Statue von

Ertz
F 5
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[89/0089] von den Choͤren. Handlung, als die Handlung eines Trauerſpie- les ſeyn ſoll, Geſaͤnge, Lieder und Taͤntze zu un- termiſchen? Jſts nicht laͤcherlich, daß man drohe, klage, ſterbe, indem man ſingt; und daß ein Trupp Leute, die von Furcht oder Schrecken eingenom- men ſind, dieſe verſchiedenen Empfindungen mit- telſt der Taͤntze an den Tag lege? Die alſo reden, geben nicht recht Achtung auf die Natur des Trauerſpieles, es iſt zwar eine Nachahmung ei- ner ernſtlichen Handlung, aber es iſt nicht allein eine Nachahmung, ſondern auch ein Gedichte, und ein Gedichte, das ein Schauſpiel werden ſoll. Als ein Gedichte ſchmuͤckt es ſich mit allem demje- nigen aus, was am bequemſten iſt, die Phantaſie zu entzuͤcken, und das Ohr zu bezaubern; als ein Schauſpiel trachtet es vor allen andern den Augen zu gefallen, und man muß ſich bißweilen von der Wahrſcheinlichkeit ein wenig entfernen, damit man deſto beſſer gefalle. Alsdann kan der Geiſt, der durch einen maͤchtigern Reitz geblendet wird, nicht wahrnehmen, daß man ihn betriegt, und uͤberlie- fert ſich, ſo groß er iſt, dem Ergetzen, das man ihm gewaͤhret. Aus dieſer Urſache raͤumt man dem Wunderbaren in dem Epiſchen Gedichte einen Platz ein; und aus dieſer Urſache hat die Fabel ſelbſt, die von Wahrſcheinlichkeit entbloͤßt iſt, ſo viel Annehmlichkeit. Die Nachahmungen, wel- che am meiſten Aehnlichkeit mit den nachgemach- ten Sachen haben, ſind nicht die vollkommenſten Wercke der Kunſt; diejenigen, welche auf die voll- kommenſte Art nachahmen, muͤſſen billig den Vor- zug vor den andern bekommen. Eine Statue von Ertz F 5

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/89>, abgerufen am 24.11.2024.