Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite

von den Chören.
hielten sich an eine von den vornehmsten Personen.
Jst es nun etwas ungereimtes, daß die, deren der
Chor sich annimmt, ihre Gemuths-Gedancken vor
ihm eröffnen? Es wird einem geschickten Poeten
niemahls an Mitteln fehlen, seine Chöre mit sei-
ner Materie auf eine wahrscheinliche Art zu ver-
binden; zumahl da das so viel wäre, als nicht wis-
sen, was das Theatrum ist, wenn man auf dem-
selben eine so abergläubige Sorgfalt fodern wollte,
die nichts gestattete, was sich nur zween Schritte
weit von dem gewöhnlichen Gebrauche entfernete.
Aber gesezt, es sey ungemein schwer, die Chöre
glücklich anzubringen, das ist kein genugsamer
Grund sie zu verwerffen, wofern sie sonst nothwen-
dig scheinen. Man hat Recht, von einem Poeten
zu fodern, daß er Wunderwercke thun solle.

Aber der trefflichste Nutzen der Chöre in dem
Trauerspiele der Alten ist unläugbar das pathetische
Wesen, welches sie verursacheten. Jhre edle und
majestätische Tragödie entlehnte von der Morale
ihre schönsten Lebensregeln, machte sich ein Ansehen
mit der Religion, und putzete sich mit ihren feyer-
lichsten Ceremonien. Und indem sie alles zu ihrem
Vortheil anwendete, was die Poesie vor Witz und
Anmuth hat, die Geister einzunehmen, und die Her-
zen zu rühren, that sie noch dazu, was immer die
Sinnen blenden kan; worbey sie allezeit ihren
Hauptendzweck seyn ließ, einen Abscheu vor dem
Laster einzupflanzen, und aus dem Theater eine
Schule der Tugenden zu machen, und dasselbe vor
eines der besten Mittel zu gebrauchen, womit man
die Leute ihrer Pflichten erinnern, und sie in den
Schrancken halten konnte.

Die

von den Choͤren.
hielten ſich an eine von den vornehmſten Perſonen.
Jſt es nun etwas ungereimtes, daß die, deren der
Chor ſich annimmt, ihre Gemuths-Gedancken vor
ihm eroͤffnen? Es wird einem geſchickten Poeten
niemahls an Mitteln fehlen, ſeine Choͤre mit ſei-
ner Materie auf eine wahrſcheinliche Art zu ver-
binden; zumahl da das ſo viel waͤre, als nicht wiſ-
ſen, was das Theatrum iſt, wenn man auf dem-
ſelben eine ſo aberglaͤubige Sorgfalt fodern wollte,
die nichts geſtattete, was ſich nur zween Schritte
weit von dem gewoͤhnlichen Gebrauche entfernete.
Aber geſezt, es ſey ungemein ſchwer, die Choͤre
gluͤcklich anzubringen, das iſt kein genugſamer
Grund ſie zu verwerffen, wofern ſie ſonſt nothwen-
dig ſcheinen. Man hat Recht, von einem Poeten
zu fodern, daß er Wunderwercke thun ſolle.

Aber der trefflichſte Nutzen der Choͤre in dem
Trauerſpiele der Alten iſt unlaͤugbar das pathetiſche
Weſen, welches ſie verurſacheten. Jhre edle und
majeſtaͤtiſche Tragoͤdie entlehnte von der Morale
ihre ſchoͤnſten Lebensregeln, machte ſich ein Anſehen
mit der Religion, und putzete ſich mit ihren feyer-
lichſten Ceremonien. Und indem ſie alles zu ihrem
Vortheil anwendete, was die Poeſie vor Witz und
Anmuth hat, die Geiſter einzunehmen, und die Her-
zen zu ruͤhren, that ſie noch dazu, was immer die
Sinnen blenden kan; worbey ſie allezeit ihren
Hauptendzweck ſeyn ließ, einen Abſcheu vor dem
Laſter einzupflanzen, und aus dem Theater eine
Schule der Tugenden zu machen, und daſſelbe vor
eines der beſten Mittel zu gebrauchen, womit man
die Leute ihrer Pflichten erinnern, und ſie in den
Schrancken halten konnte.

Die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0093" n="93"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">von den Cho&#x0364;ren.</hi></fw><lb/>
hielten &#x017F;ich an eine von den vornehm&#x017F;ten Per&#x017F;onen.<lb/>
J&#x017F;t es nun etwas ungereimtes, daß die, deren der<lb/>
Chor &#x017F;ich annimmt, ihre Gemuths-Gedancken vor<lb/>
ihm ero&#x0364;ffnen? Es wird einem ge&#x017F;chickten Poeten<lb/>
niemahls an Mitteln fehlen, &#x017F;eine Cho&#x0364;re mit &#x017F;ei-<lb/>
ner Materie auf eine wahr&#x017F;cheinliche Art zu ver-<lb/>
binden; zumahl da das &#x017F;o viel wa&#x0364;re, als nicht wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, was das Theatrum i&#x017F;t, wenn man auf dem-<lb/>
&#x017F;elben eine &#x017F;o abergla&#x0364;ubige Sorgfalt fodern wollte,<lb/>
die nichts ge&#x017F;tattete, was &#x017F;ich nur zween Schritte<lb/>
weit von dem gewo&#x0364;hnlichen Gebrauche entfernete.<lb/>
Aber ge&#x017F;ezt, es &#x017F;ey ungemein &#x017F;chwer, die Cho&#x0364;re<lb/>
glu&#x0364;cklich anzubringen, das i&#x017F;t kein genug&#x017F;amer<lb/>
Grund &#x017F;ie zu verwerffen, wofern &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t nothwen-<lb/>
dig &#x017F;cheinen. Man hat Recht, von einem Poeten<lb/>
zu fodern, daß er Wunderwercke thun &#x017F;olle.</p><lb/>
        <p>Aber der trefflich&#x017F;te Nutzen der Cho&#x0364;re in dem<lb/>
Trauer&#x017F;piele der Alten i&#x017F;t unla&#x0364;ugbar das patheti&#x017F;che<lb/>
We&#x017F;en, welches &#x017F;ie verur&#x017F;acheten. Jhre edle und<lb/>
maje&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;che Trago&#x0364;die entlehnte von der Morale<lb/>
ihre &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Lebensregeln, machte &#x017F;ich ein An&#x017F;ehen<lb/>
mit der Religion, und putzete &#x017F;ich mit ihren feyer-<lb/>
lich&#x017F;ten Ceremonien. Und indem &#x017F;ie alles zu ihrem<lb/>
Vortheil anwendete, was die Poe&#x017F;ie vor Witz und<lb/>
Anmuth hat, die Gei&#x017F;ter einzunehmen, und die Her-<lb/>
zen zu ru&#x0364;hren, that &#x017F;ie noch dazu, was immer die<lb/>
Sinnen blenden kan; worbey &#x017F;ie allezeit ihren<lb/>
Hauptendzweck &#x017F;eyn ließ, einen Ab&#x017F;cheu vor dem<lb/>
La&#x017F;ter einzupflanzen, und aus dem Theater eine<lb/>
Schule der Tugenden zu machen, und da&#x017F;&#x017F;elbe vor<lb/>
eines der be&#x017F;ten Mittel zu gebrauchen, womit man<lb/>
die Leute ihrer Pflichten erinnern, und &#x017F;ie in den<lb/>
Schrancken halten konnte.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0093] von den Choͤren. hielten ſich an eine von den vornehmſten Perſonen. Jſt es nun etwas ungereimtes, daß die, deren der Chor ſich annimmt, ihre Gemuths-Gedancken vor ihm eroͤffnen? Es wird einem geſchickten Poeten niemahls an Mitteln fehlen, ſeine Choͤre mit ſei- ner Materie auf eine wahrſcheinliche Art zu ver- binden; zumahl da das ſo viel waͤre, als nicht wiſ- ſen, was das Theatrum iſt, wenn man auf dem- ſelben eine ſo aberglaͤubige Sorgfalt fodern wollte, die nichts geſtattete, was ſich nur zween Schritte weit von dem gewoͤhnlichen Gebrauche entfernete. Aber geſezt, es ſey ungemein ſchwer, die Choͤre gluͤcklich anzubringen, das iſt kein genugſamer Grund ſie zu verwerffen, wofern ſie ſonſt nothwen- dig ſcheinen. Man hat Recht, von einem Poeten zu fodern, daß er Wunderwercke thun ſolle. Aber der trefflichſte Nutzen der Choͤre in dem Trauerſpiele der Alten iſt unlaͤugbar das pathetiſche Weſen, welches ſie verurſacheten. Jhre edle und majeſtaͤtiſche Tragoͤdie entlehnte von der Morale ihre ſchoͤnſten Lebensregeln, machte ſich ein Anſehen mit der Religion, und putzete ſich mit ihren feyer- lichſten Ceremonien. Und indem ſie alles zu ihrem Vortheil anwendete, was die Poeſie vor Witz und Anmuth hat, die Geiſter einzunehmen, und die Her- zen zu ruͤhren, that ſie noch dazu, was immer die Sinnen blenden kan; worbey ſie allezeit ihren Hauptendzweck ſeyn ließ, einen Abſcheu vor dem Laſter einzupflanzen, und aus dem Theater eine Schule der Tugenden zu machen, und daſſelbe vor eines der beſten Mittel zu gebrauchen, womit man die Leute ihrer Pflichten erinnern, und ſie in den Schrancken halten konnte. Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/93
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/93>, abgerufen am 24.11.2024.