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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743.

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Arion
in Corinth lange leben! Lebet wohl, O Freunde,
die mir der Himmel gegönnet hat! Jch verlasse euch;
aber wie bitter wird mir das Scheiden! Nimmer-
mehr wird mir vergönnet werden, eure Freude
mit zugeniessen. Nimmermehr mit euch zu
schertzen, mich bey euch zu entladen. Würde mir
nur noch einmahl erlaubet euch zu sehen, euch
anzureden, nur noch ein einziges mahl euch mei-
nen Kummer zu klagen: Jch würde alsdann gerne
wieder zurücke kehren; alsdann würde ich mich
freudiger dem Tod übergeben. Aber eine uner-
meßliche Kluft scheidet mich von euch. Gebet doch
Achtung, O Freunde, wenn diese Uebelthäter
zu euch kommen; alles an ihnen wird euch von
Arion reden; ihre Hände, Augen, Blicke, al-
les wird euch ihre Mordthat verrathen. Gehabe
dich wohl! Schönes Corinth! Gehabet euch wohl
ihr geheimen Sommergänge, die ihr mich so oft
einsam gehöret, wenn mein Mund Ehrfurchtsvoll
einen Gott oder eine Göttin besungen hat. Jhr
kühlen Gründe, ihr stillen Wälder, ihr Triften,
wo mich die aufgehende Sonne stets gefunden,
und da sie mir täglich den letzten Blick gegeben
hat, und da ich so oft ihren Untergang mit meiner
Stimme begleitet habe! Jch werde nimmermehr
die warmen Lüfte fühlen, die euch durchhauchen.
Jhr werdet mich nimmermehr sehen, ausgenom-
men wenn mein Schatten bey euch herum irren
wird, mit ängstlichen Seufzern die Menschen zu
erschrecken, und die Götter zur Rache zu zwin-
gen. Mir ist schon, ich sehe das untere Reich,
da eine stete Dämmerung herrschet, woselbst der

Mit-

Arion
in Corinth lange leben! Lebet wohl, O Freunde,
die mir der Himmel gegoͤnnet hat! Jch verlaſſe euch;
aber wie bitter wird mir das Scheiden! Nimmer-
mehr wird mir vergoͤnnet werden, eure Freude
mit zugenieſſen. Nimmermehr mit euch zu
ſchertzen, mich bey euch zu entladen. Wuͤrde mir
nur noch einmahl erlaubet euch zu ſehen, euch
anzureden, nur noch ein einziges mahl euch mei-
nen Kummer zu klagen: Jch wuͤrde alsdann gerne
wieder zuruͤcke kehren; alsdann wuͤrde ich mich
freudiger dem Tod uͤbergeben. Aber eine uner-
meßliche Kluft ſcheidet mich von euch. Gebet doch
Achtung, O Freunde, wenn dieſe Uebelthaͤter
zu euch kommen; alles an ihnen wird euch von
Arion reden; ihre Haͤnde, Augen, Blicke, al-
les wird euch ihre Mordthat verrathen. Gehabe
dich wohl! Schoͤnes Corinth! Gehabet euch wohl
ihr geheimen Sommergaͤnge, die ihr mich ſo oft
einſam gehoͤret, wenn mein Mund Ehrfurchtsvoll
einen Gott oder eine Goͤttin beſungen hat. Jhr
kuͤhlen Gruͤnde, ihr ſtillen Waͤlder, ihr Triften,
wo mich die aufgehende Sonne ſtets gefunden,
und da ſie mir taͤglich den letzten Blick gegeben
hat, und da ich ſo oft ihren Untergang mit meiner
Stimme begleitet habe! Jch werde nimmermehr
die warmen Luͤfte fuͤhlen, die euch durchhauchen.
Jhr werdet mich nimmermehr ſehen, ausgenom-
men wenn mein Schatten bey euch herum irren
wird, mit aͤngſtlichen Seufzern die Menſchen zu
erſchrecken, und die Goͤtter zur Rache zu zwin-
gen. Mir iſt ſchon, ich ſehe das untere Reich,
da eine ſtete Daͤmmerung herrſchet, woſelbſt der

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[80/0082] Arion in Corinth lange leben! Lebet wohl, O Freunde, die mir der Himmel gegoͤnnet hat! Jch verlaſſe euch; aber wie bitter wird mir das Scheiden! Nimmer- mehr wird mir vergoͤnnet werden, eure Freude mit zugenieſſen. Nimmermehr mit euch zu ſchertzen, mich bey euch zu entladen. Wuͤrde mir nur noch einmahl erlaubet euch zu ſehen, euch anzureden, nur noch ein einziges mahl euch mei- nen Kummer zu klagen: Jch wuͤrde alsdann gerne wieder zuruͤcke kehren; alsdann wuͤrde ich mich freudiger dem Tod uͤbergeben. Aber eine uner- meßliche Kluft ſcheidet mich von euch. Gebet doch Achtung, O Freunde, wenn dieſe Uebelthaͤter zu euch kommen; alles an ihnen wird euch von Arion reden; ihre Haͤnde, Augen, Blicke, al- les wird euch ihre Mordthat verrathen. Gehabe dich wohl! Schoͤnes Corinth! Gehabet euch wohl ihr geheimen Sommergaͤnge, die ihr mich ſo oft einſam gehoͤret, wenn mein Mund Ehrfurchtsvoll einen Gott oder eine Goͤttin beſungen hat. Jhr kuͤhlen Gruͤnde, ihr ſtillen Waͤlder, ihr Triften, wo mich die aufgehende Sonne ſtets gefunden, und da ſie mir taͤglich den letzten Blick gegeben hat, und da ich ſo oft ihren Untergang mit meiner Stimme begleitet habe! Jch werde nimmermehr die warmen Luͤfte fuͤhlen, die euch durchhauchen. Jhr werdet mich nimmermehr ſehen, ausgenom- men wenn mein Schatten bey euch herum irren wird, mit aͤngſtlichen Seufzern die Menſchen zu erſchrecken, und die Goͤtter zur Rache zu zwin- gen. Mir iſt ſchon, ich ſehe das untere Reich, da eine ſtete Daͤmmerung herrſchet, woſelbſt der Mit-

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung11_1743/82>, abgerufen am 18.05.2024.