[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.Wie weit sich ein Poet entdecken, noch stürtzen kan. Eine Erdichtungkan freylich zu einem Wahne, der sich nach und nach ausbreitet, Anlaß geben; aber darum ist die Erdichtung mit dem Wahne nicht einerley. Am meisten aber verräth sich der grosse Unverstand und die Unbedachtsamkeit des J. A. K. wenn er von einem heterocosmischen Wahne, d. i. von un- begründten Urtheilen redet, die nicht in der wirck- lichen, sondern in einer andern möglichen Welt Statt haben, und den wahrscheinlichen Wahn von demselben unterscheidet; welches daher rühret, weil er nicht gemerckt, daß Herr Baumgarten die wahrscheinliche und die heterocosmische Erdich- dichtung für eins hält. Jm übrigen ist freylich wahr, daß zuweilen ein gantz unvernünftiger und widersprechender Satz ein allgemeines Ansehen er- langen kan, insonderheit wenn er von dem Aber- glauben unterstützet wird: Allein dieses rühret kei- neswegs von dem Wahne her, in so ferne er als ein solcher betrachtet wird; sondern von dem Jrr- thum, der mit einem falschen Wahne immer ver- knüpfet ist; denn der Jrrthum streitet etwann mit denen ersten Grundwahrheiten, die kein Vernünf- tiger in Zweifel ziehet; etwann aber mit andern da- von hergeleiteten Sätzen, so daß er um etwas ver- steckt ist, und nicht so geschwind einem jeden in die Augen leuchtet; allein da die Falschheit alle- mahl mit der Wahrheit im Widerspruch stehet, so kan ein irriger Wahn niemahls möglich seyn. So unglücklich aber J. A. K. in seinen Lehrsätzen der-
Wie weit ſich ein Poet entdecken, noch ſtuͤrtzen kan. Eine Erdichtungkan freylich zu einem Wahne, der ſich nach und nach ausbreitet, Anlaß geben; aber darum iſt die Erdichtung mit dem Wahne nicht einerley. Am meiſten aber verraͤth ſich der groſſe Unverſtand und die Unbedachtſamkeit des J. A. K. wenn er von einem heterocosmiſchen Wahne, d. i. von un- begruͤndten Urtheilen redet, die nicht in der wirck- lichen, ſondern in einer andern moͤglichen Welt Statt haben, und den wahrſcheinlichen Wahn von demſelben unterſcheidet; welches daher ruͤhret, weil er nicht gemerckt, daß Herr Baumgarten die wahrſcheinliche und die heterocosmiſche Erdich- dichtung fuͤr eins haͤlt. Jm uͤbrigen iſt freylich wahr, daß zuweilen ein gantz unvernuͤnftiger und widerſprechender Satz ein allgemeines Anſehen er- langen kan, inſonderheit wenn er von dem Aber- glauben unterſtuͤtzet wird: Allein dieſes ruͤhret kei- neswegs von dem Wahne her, in ſo ferne er als ein ſolcher betrachtet wird; ſondern von dem Jrr- thum, der mit einem falſchen Wahne immer ver- knuͤpfet iſt; denn der Jrrthum ſtreitet etwann mit denen erſten Grundwahrheiten, die kein Vernuͤnf- tiger in Zweifel ziehet; etwann aber mit andern da- von hergeleiteten Saͤtzen, ſo daß er um etwas ver- ſteckt iſt, und nicht ſo geſchwind einem jeden in die Augen leuchtet; allein da die Falſchheit alle- mahl mit der Wahrheit im Widerſpruch ſtehet, ſo kan ein irriger Wahn niemahls moͤglich ſeyn. So ungluͤcklich aber J. A. K. in ſeinen Lehrſaͤtzen der-
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Wie weit ſich ein Poet
entdecken, noch ſtuͤrtzen kan. Eine Erdichtung
kan freylich zu einem Wahne, der ſich nach und
nach ausbreitet, Anlaß geben; aber darum iſt
die Erdichtung mit dem Wahne nicht einerley. Am
meiſten aber verraͤth ſich der groſſe Unverſtand und
die Unbedachtſamkeit des J. A. K. wenn er von
einem heterocosmiſchen Wahne, d. i. von un-
begruͤndten Urtheilen redet, die nicht in der wirck-
lichen, ſondern in einer andern moͤglichen Welt
Statt haben, und den wahrſcheinlichen Wahn
von demſelben unterſcheidet; welches daher ruͤhret,
weil er nicht gemerckt, daß Herr Baumgarten
die wahrſcheinliche und die heterocosmiſche Erdich-
dichtung fuͤr eins haͤlt. Jm uͤbrigen iſt freylich
wahr, daß zuweilen ein gantz unvernuͤnftiger und
widerſprechender Satz ein allgemeines Anſehen er-
langen kan, inſonderheit wenn er von dem Aber-
glauben unterſtuͤtzet wird: Allein dieſes ruͤhret kei-
neswegs von dem Wahne her, in ſo ferne er als
ein ſolcher betrachtet wird; ſondern von dem Jrr-
thum, der mit einem falſchen Wahne immer ver-
knuͤpfet iſt; denn der Jrrthum ſtreitet etwann mit
denen erſten Grundwahrheiten, die kein Vernuͤnf-
tiger in Zweifel ziehet; etwann aber mit andern da-
von hergeleiteten Saͤtzen, ſo daß er um etwas ver-
ſteckt iſt, und nicht ſo geſchwind einem jeden in
die Augen leuchtet; allein da die Falſchheit alle-
mahl mit der Wahrheit im Widerſpruch ſtehet,
ſo kan ein irriger Wahn niemahls moͤglich ſeyn.
So ungluͤcklich aber J. A. K. in ſeinen Lehrſaͤtzen
iſt, eben ſo ausſchweifend iſt er in ſeinen Exem-
peln und der Anwendung derſelben: Er fuͤhret auf
der-
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