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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.

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Strukaras,
einem so erheiternden Licht in den Verstand,
daß sie sich nicht entbrechen konnte, sie zu erken-
nen. Je mehr sie fortlas, je mehr fand sie Er-
weise und Ueberzeugungen. Jn der schärfesten
Jronie selbst entdeckete sie einen festen, auf die
Natur der Sachen gegründeten Fuß. Sie sah
iezt in den Wercken ihres Freundes ein harmo-
nisches Galimathias, mit dem Gedächtniß aus-
geführte Erweise, eine gereimte Unordnung,
kaltsinnige Figuren, und eine Sprache ohne
Seele. Jndem sie diese Entdeckungen machete,
veränderte sich die Gestalt ihres Angesichtes sie-
benmahl, ihr Hertz pochete, die Knie wurden
schlaff, Hitze und Frost wechselten in ihrem Ge-
blüte. Sie stuhnd iezo ganz betreten, und un-
schlüssig, ob sie die Wahrheit oder die Freund-
schaft ehren wollte; nicht lange, sie bestrafte
sich bald selbst, daß sie zwischen beyden hatte
zweifeln können. Sie fürchtete indessen, daß
Strukaras anderst dencken würde; sie kannte
seinen Hochmuth; er mußte nothwendig, kraft
seines höhern Verstandes die Wahrheit einge-
sehen haben, welche sie mit ihren schwächern
Einsichten entdecket hatte; nichtsdestoweniger
hatte er sie verleugnet; und auf was vor eine
Art sollte sie ihm zu wissen thun, daß sie seinen
Mischmasch entdecket hätte? Wie würde ers
aufnehmen, wenn sie sich zu der Wahrheit be-
kennete, gegen welche er das Herz und den Ver-
stand verhärtet hätte; würde er ihr nicht seine
Liebe entziehen, und könnte sie ohne dieselbe le-
ben? Aber wie könnte sie künftig ein Herz zu

ihm

Strukaras,
einem ſo erheiternden Licht in den Verſtand,
daß ſie ſich nicht entbrechen konnte, ſie zu erken-
nen. Je mehr ſie fortlas, je mehr fand ſie Er-
weiſe und Ueberzeugungen. Jn der ſchaͤrfeſten
Jronie ſelbſt entdeckete ſie einen feſten, auf die
Natur der Sachen gegruͤndeten Fuß. Sie ſah
iezt in den Wercken ihres Freundes ein harmo-
niſches Galimathias, mit dem Gedaͤchtniß aus-
gefuͤhrte Erweiſe, eine gereimte Unordnung,
kaltſinnige Figuren, und eine Sprache ohne
Seele. Jndem ſie dieſe Entdeckungen machete,
veraͤnderte ſich die Geſtalt ihres Angeſichtes ſie-
benmahl, ihr Hertz pochete, die Knie wurden
ſchlaff, Hitze und Froſt wechſelten in ihrem Ge-
bluͤte. Sie ſtuhnd iezo ganz betreten, und un-
ſchluͤſſig, ob ſie die Wahrheit oder die Freund-
ſchaft ehren wollte; nicht lange, ſie beſtrafte
ſich bald ſelbſt, daß ſie zwiſchen beyden hatte
zweifeln koͤnnen. Sie fuͤrchtete indeſſen, daß
Strukaras anderſt dencken wuͤrde; ſie kannte
ſeinen Hochmuth; er mußte nothwendig, kraft
ſeines hoͤhern Verſtandes die Wahrheit einge-
ſehen haben, welche ſie mit ihren ſchwaͤchern
Einſichten entdecket hatte; nichtsdeſtoweniger
hatte er ſie verleugnet; und auf was vor eine
Art ſollte ſie ihm zu wiſſen thun, daß ſie ſeinen
Miſchmaſch entdecket haͤtte? Wie wuͤrde ers
aufnehmen, wenn ſie ſich zu der Wahrheit be-
kennete, gegen welche er das Herz und den Ver-
ſtand verhaͤrtet haͤtte; wuͤrde er ihr nicht ſeine
Liebe entziehen, und koͤnnte ſie ohne dieſelbe le-
ben? Aber wie koͤnnte ſie kuͤnftig ein Herz zu

ihm
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[62/0064] Strukaras, einem ſo erheiternden Licht in den Verſtand, daß ſie ſich nicht entbrechen konnte, ſie zu erken- nen. Je mehr ſie fortlas, je mehr fand ſie Er- weiſe und Ueberzeugungen. Jn der ſchaͤrfeſten Jronie ſelbſt entdeckete ſie einen feſten, auf die Natur der Sachen gegruͤndeten Fuß. Sie ſah iezt in den Wercken ihres Freundes ein harmo- niſches Galimathias, mit dem Gedaͤchtniß aus- gefuͤhrte Erweiſe, eine gereimte Unordnung, kaltſinnige Figuren, und eine Sprache ohne Seele. Jndem ſie dieſe Entdeckungen machete, veraͤnderte ſich die Geſtalt ihres Angeſichtes ſie- benmahl, ihr Hertz pochete, die Knie wurden ſchlaff, Hitze und Froſt wechſelten in ihrem Ge- bluͤte. Sie ſtuhnd iezo ganz betreten, und un- ſchluͤſſig, ob ſie die Wahrheit oder die Freund- ſchaft ehren wollte; nicht lange, ſie beſtrafte ſich bald ſelbſt, daß ſie zwiſchen beyden hatte zweifeln koͤnnen. Sie fuͤrchtete indeſſen, daß Strukaras anderſt dencken wuͤrde; ſie kannte ſeinen Hochmuth; er mußte nothwendig, kraft ſeines hoͤhern Verſtandes die Wahrheit einge- ſehen haben, welche ſie mit ihren ſchwaͤchern Einſichten entdecket hatte; nichtsdeſtoweniger hatte er ſie verleugnet; und auf was vor eine Art ſollte ſie ihm zu wiſſen thun, daß ſie ſeinen Miſchmaſch entdecket haͤtte? Wie wuͤrde ers aufnehmen, wenn ſie ſich zu der Wahrheit be- kennete, gegen welche er das Herz und den Ver- ſtand verhaͤrtet haͤtte; wuͤrde er ihr nicht ſeine Liebe entziehen, und koͤnnte ſie ohne dieſelbe le- ben? Aber wie koͤnnte ſie kuͤnftig ein Herz zu ihm

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/64>, abgerufen am 23.11.2024.