dir den heutigen Boden Europas, hinabgesenkt in tiefe Gesteins¬ schichten, mit all seinen unendlichen Trümmermassen mensch¬ licher Industrie! Dort aber siehst du nichts mehr. Nur den jungfräulichen Urwald, wie er heute den einsamen Wanderer in neu entdecktem Gebiet märchengrün umfängt. Und in dem Urwald nur Tiere unterhalb der Menschenorganisation. Zwischen den grell bunten Blüten der Urwaldbäume, wo die Sonne feine Lichtstreifen in das grüne Geheimnis webt, klettern Affen.
Warum soll in ihnen nicht die Kette der Generationen, die heute "Menschheit" heißt, rückwärts weitergehen?
Wieder eine unendliche Zeit -- und im Walde von Palm¬ farnen und Araukarien springen langgeschwänzte Beuteltiere, bergen sich im Moor Wesen nach Art unseres Schnabeltieres. Im System der Tiere wie es unsere Wissenschaft endlich heute nach heißester, unermüdlicher Arbeit aufgestellt hat, verhalten sich diese Beuteltiere und Schnabeltiere zu den Affen und affenähnlichen Säugetieren etwa so wie diese zu dem hoch ent¬ wickelten Menschentier. Sie stehen eine Stufe tiefer in ihrem Knochenbau, ihrem Gehirn, ihrer Methode, die Jungen vor der eigentlichen Geburt ausreifen zu lassen.
In dieser Zeit der Beuteltiere und Schnabeltiere, die etwa dem Zeitalter des Ichthyosaurus entspricht, giebt es so wenig Menschen wie in jenem alten tropischen Affenwalde. Aber es giebt auch noch keine Affen. Warum soll nicht das, was später Affe und zuletzt Mensch war, damals die Gestalt eines Beuteltieres und Schnabeltieres gehabt haben?
Und so immer weiter zurück.
Es kommen Epochen, aus denen kein einziger kleinster Rest eines Schnabeltieres oder Beuteltieres, überhaupt keiner irgend eines Säugetieres mehr überliefert ist. Den Ozean aber durchwimmeln bereits unzählige Fische. Das, was später am Lande lebte, durch Lungen atmete und seine Jungen säugte und von uns Schnabeltier genannt wird: es muß in diesen Tagen Kiemen am Halse und Flossen am Leibe getragen haben.
dir den heutigen Boden Europas, hinabgeſenkt in tiefe Geſteins¬ ſchichten, mit all ſeinen unendlichen Trümmermaſſen menſch¬ licher Induſtrie! Dort aber ſiehſt du nichts mehr. Nur den jungfräulichen Urwald, wie er heute den einſamen Wanderer in neu entdecktem Gebiet märchengrün umfängt. Und in dem Urwald nur Tiere unterhalb der Menſchenorganiſation. Zwiſchen den grell bunten Blüten der Urwaldbäume, wo die Sonne feine Lichtſtreifen in das grüne Geheimnis webt, klettern Affen.
Warum ſoll in ihnen nicht die Kette der Generationen, die heute „Menſchheit“ heißt, rückwärts weitergehen?
Wieder eine unendliche Zeit — und im Walde von Palm¬ farnen und Araukarien ſpringen langgeſchwänzte Beuteltiere, bergen ſich im Moor Weſen nach Art unſeres Schnabeltieres. Im Syſtem der Tiere wie es unſere Wiſſenſchaft endlich heute nach heißeſter, unermüdlicher Arbeit aufgeſtellt hat, verhalten ſich dieſe Beuteltiere und Schnabeltiere zu den Affen und affenähnlichen Säugetieren etwa ſo wie dieſe zu dem hoch ent¬ wickelten Menſchentier. Sie ſtehen eine Stufe tiefer in ihrem Knochenbau, ihrem Gehirn, ihrer Methode, die Jungen vor der eigentlichen Geburt ausreifen zu laſſen.
In dieſer Zeit der Beuteltiere und Schnabeltiere, die etwa dem Zeitalter des Ichthyoſaurus entſpricht, giebt es ſo wenig Menſchen wie in jenem alten tropiſchen Affenwalde. Aber es giebt auch noch keine Affen. Warum ſoll nicht das, was ſpäter Affe und zuletzt Menſch war, damals die Geſtalt eines Beuteltieres und Schnabeltieres gehabt haben?
Und ſo immer weiter zurück.
Es kommen Epochen, aus denen kein einziger kleinſter Reſt eines Schnabeltieres oder Beuteltieres, überhaupt keiner irgend eines Säugetieres mehr überliefert iſt. Den Ozean aber durchwimmeln bereits unzählige Fiſche. Das, was ſpäter am Lande lebte, durch Lungen atmete und ſeine Jungen ſäugte und von uns Schnabeltier genannt wird: es muß in dieſen Tagen Kiemen am Halſe und Floſſen am Leibe getragen haben.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0111"n="95"/>
dir den heutigen Boden Europas, hinabgeſenkt in tiefe Geſteins¬<lb/>ſchichten, mit all ſeinen unendlichen Trümmermaſſen menſch¬<lb/>
licher Induſtrie! Dort aber ſiehſt du nichts mehr. Nur den<lb/>
jungfräulichen Urwald, wie er heute den einſamen Wanderer<lb/>
in neu entdecktem Gebiet märchengrün umfängt. Und in dem<lb/>
Urwald nur Tiere unterhalb der Menſchenorganiſation. Zwiſchen<lb/>
den grell bunten Blüten der Urwaldbäume, wo die Sonne<lb/>
feine Lichtſtreifen in das grüne Geheimnis webt, klettern Affen.</p><lb/><p>Warum ſoll in ihnen nicht die Kette der Generationen,<lb/>
die heute „Menſchheit“ heißt, rückwärts weitergehen?</p><lb/><p>Wieder eine unendliche Zeit — und im Walde von Palm¬<lb/>
farnen und Araukarien ſpringen langgeſchwänzte Beuteltiere,<lb/>
bergen ſich im Moor Weſen nach Art unſeres Schnabeltieres.<lb/>
Im Syſtem der Tiere wie es unſere Wiſſenſchaft endlich heute<lb/>
nach heißeſter, unermüdlicher Arbeit aufgeſtellt hat, verhalten<lb/>ſich dieſe Beuteltiere und Schnabeltiere zu den Affen und<lb/>
affenähnlichen Säugetieren etwa ſo wie dieſe zu dem hoch ent¬<lb/>
wickelten Menſchentier. Sie ſtehen eine Stufe tiefer in ihrem<lb/>
Knochenbau, ihrem Gehirn, ihrer Methode, die Jungen vor<lb/>
der eigentlichen Geburt ausreifen zu laſſen.</p><lb/><p>In dieſer Zeit der Beuteltiere und Schnabeltiere, die<lb/>
etwa dem Zeitalter des Ichthyoſaurus entſpricht, giebt es ſo<lb/>
wenig Menſchen wie in jenem alten tropiſchen Affenwalde.<lb/>
Aber es giebt auch noch keine Affen. Warum ſoll nicht das,<lb/>
was ſpäter Affe und zuletzt Menſch war, damals die Geſtalt<lb/>
eines Beuteltieres und Schnabeltieres gehabt haben?</p><lb/><p>Und ſo immer weiter zurück.</p><lb/><p>Es kommen Epochen, aus denen kein einziger kleinſter<lb/>
Reſt eines Schnabeltieres oder Beuteltieres, überhaupt keiner<lb/>
irgend eines Säugetieres mehr überliefert iſt. Den Ozean aber<lb/>
durchwimmeln bereits unzählige Fiſche. Das, was ſpäter am<lb/>
Lande lebte, durch Lungen atmete und ſeine Jungen ſäugte<lb/>
und von uns Schnabeltier genannt wird: es muß in dieſen<lb/>
Tagen Kiemen am Halſe und Floſſen am Leibe getragen haben.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[95/0111]
dir den heutigen Boden Europas, hinabgeſenkt in tiefe Geſteins¬
ſchichten, mit all ſeinen unendlichen Trümmermaſſen menſch¬
licher Induſtrie! Dort aber ſiehſt du nichts mehr. Nur den
jungfräulichen Urwald, wie er heute den einſamen Wanderer
in neu entdecktem Gebiet märchengrün umfängt. Und in dem
Urwald nur Tiere unterhalb der Menſchenorganiſation. Zwiſchen
den grell bunten Blüten der Urwaldbäume, wo die Sonne
feine Lichtſtreifen in das grüne Geheimnis webt, klettern Affen.
Warum ſoll in ihnen nicht die Kette der Generationen,
die heute „Menſchheit“ heißt, rückwärts weitergehen?
Wieder eine unendliche Zeit — und im Walde von Palm¬
farnen und Araukarien ſpringen langgeſchwänzte Beuteltiere,
bergen ſich im Moor Weſen nach Art unſeres Schnabeltieres.
Im Syſtem der Tiere wie es unſere Wiſſenſchaft endlich heute
nach heißeſter, unermüdlicher Arbeit aufgeſtellt hat, verhalten
ſich dieſe Beuteltiere und Schnabeltiere zu den Affen und
affenähnlichen Säugetieren etwa ſo wie dieſe zu dem hoch ent¬
wickelten Menſchentier. Sie ſtehen eine Stufe tiefer in ihrem
Knochenbau, ihrem Gehirn, ihrer Methode, die Jungen vor
der eigentlichen Geburt ausreifen zu laſſen.
In dieſer Zeit der Beuteltiere und Schnabeltiere, die
etwa dem Zeitalter des Ichthyoſaurus entſpricht, giebt es ſo
wenig Menſchen wie in jenem alten tropiſchen Affenwalde.
Aber es giebt auch noch keine Affen. Warum ſoll nicht das,
was ſpäter Affe und zuletzt Menſch war, damals die Geſtalt
eines Beuteltieres und Schnabeltieres gehabt haben?
Und ſo immer weiter zurück.
Es kommen Epochen, aus denen kein einziger kleinſter
Reſt eines Schnabeltieres oder Beuteltieres, überhaupt keiner
irgend eines Säugetieres mehr überliefert iſt. Den Ozean aber
durchwimmeln bereits unzählige Fiſche. Das, was ſpäter am
Lande lebte, durch Lungen atmete und ſeine Jungen ſäugte
und von uns Schnabeltier genannt wird: es muß in dieſen
Tagen Kiemen am Halſe und Floſſen am Leibe getragen haben.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/111>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.