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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Stelle dir ein Menschenweib vor. In ihm soll ein Kind
wachsen. Das Kind bekommt schon im Mutterleibe Zähne und
beginnt die Mutter auszufressen. Aber es frißt sie nicht ganz.
Es läßt meinetwegen die Hände und das Gesicht übrig. Und
es zieht diese Hände und dieses Gesicht so sich selber über,
daß sie einfach mit ihm verwachsen, seine eigenen werden.

Du kennst die Geschichte, die heilig vom frommen Antonius
von Padua und profan vom Edeln von Münchhausen erzählt
wird: wie ein Bär sich von hinten in seinen Esel oder sein
Roß, während der Reiter noch darauf sitzt, einfrißt, bis er
schließlich das ganze arme Opfer heraus- und in sich hinein¬
gefressen hat und plötzlich an Stelle des Reittiers den Heiligen
oder Ritter tragend selber im Zaum und Sattel steckt. Der
Esel ist in unserem Falle die Mutter, der Bär das junge Tier
und der Zaum die Nase der Mutter, bloß daß diese geradezu
mit dem Jungen verwachsen soll, was so verrückt ist, daß selbst
die Legende es für ihre verwöhntesten Kinder nicht zu erfinden
wagte. Ich will dir aber das Tier vorstellen, wo mindestens
etwas verblüffend Ähnliches passiert.

Freilich müssen wir da aus dem Reich der Würmer heraus!

Bitte rekapituliere dir noch einmal das Gerüst des höheren
tierischen Stammbaums. Aus dem einfachen Urdarmtier, der
Gasträa, kamen einerseits die Polypen, Medusen, Schwämme.
Andererseits aber die Würmer, in drei Hauptgruppen: den
Plattwürmern (Bandwürmer u. a.), den echten Würmern (Faden¬
würmer wie die Trichinen u. v. a.) und den Ringelwürmern
(Regenwurm).

Auf den Würmern stehen dann die vier höchsten Stämme
des Tierreichs: die Weichtiere (Schnecken u. a.), die Gliedertiere
(Krebse, Insekten u. a.), die Wirbeltiere (zu denen du selber
samt Fisch, Vogel, Eidechse u. a. m. gehörst) und die so¬
genannten Stachelhäuter, als deren Typus dir der Seeigel und
Seestern vorschweben mögen. Alle vier großen Gruppen sind
geschichtlich aus Würmern hervorgegangen, aber nicht hinter¬

Stelle dir ein Menſchenweib vor. In ihm ſoll ein Kind
wachſen. Das Kind bekommt ſchon im Mutterleibe Zähne und
beginnt die Mutter auszufreſſen. Aber es frißt ſie nicht ganz.
Es läßt meinetwegen die Hände und das Geſicht übrig. Und
es zieht dieſe Hände und dieſes Geſicht ſo ſich ſelber über,
daß ſie einfach mit ihm verwachſen, ſeine eigenen werden.

Du kennſt die Geſchichte, die heilig vom frommen Antonius
von Padua und profan vom Edeln von Münchhauſen erzählt
wird: wie ein Bär ſich von hinten in ſeinen Eſel oder ſein
Roß, während der Reiter noch darauf ſitzt, einfrißt, bis er
ſchließlich das ganze arme Opfer heraus- und in ſich hinein¬
gefreſſen hat und plötzlich an Stelle des Reittiers den Heiligen
oder Ritter tragend ſelber im Zaum und Sattel ſteckt. Der
Eſel iſt in unſerem Falle die Mutter, der Bär das junge Tier
und der Zaum die Naſe der Mutter, bloß daß dieſe geradezu
mit dem Jungen verwachſen ſoll, was ſo verrückt iſt, daß ſelbſt
die Legende es für ihre verwöhnteſten Kinder nicht zu erfinden
wagte. Ich will dir aber das Tier vorſtellen, wo mindeſtens
etwas verblüffend Ähnliches paſſiert.

Freilich müſſen wir da aus dem Reich der Würmer heraus!

Bitte rekapituliere dir noch einmal das Gerüſt des höheren
tieriſchen Stammbaums. Aus dem einfachen Urdarmtier, der
Gaſträa, kamen einerſeits die Polypen, Meduſen, Schwämme.
Andererſeits aber die Würmer, in drei Hauptgruppen: den
Plattwürmern (Bandwürmer u. a.), den echten Würmern (Faden¬
würmer wie die Trichinen u. v. a.) und den Ringelwürmern
(Regenwurm).

Auf den Würmern ſtehen dann die vier höchſten Stämme
des Tierreichs: die Weichtiere (Schnecken u. a.), die Gliedertiere
(Krebſe, Inſekten u. a.), die Wirbeltiere (zu denen du ſelber
ſamt Fiſch, Vogel, Eidechſe u. a. m. gehörſt) und die ſo¬
genannten Stachelhäuter, als deren Typus dir der Seeigel und
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[267/0283] Stelle dir ein Menſchenweib vor. In ihm ſoll ein Kind wachſen. Das Kind bekommt ſchon im Mutterleibe Zähne und beginnt die Mutter auszufreſſen. Aber es frißt ſie nicht ganz. Es läßt meinetwegen die Hände und das Geſicht übrig. Und es zieht dieſe Hände und dieſes Geſicht ſo ſich ſelber über, daß ſie einfach mit ihm verwachſen, ſeine eigenen werden. Du kennſt die Geſchichte, die heilig vom frommen Antonius von Padua und profan vom Edeln von Münchhauſen erzählt wird: wie ein Bär ſich von hinten in ſeinen Eſel oder ſein Roß, während der Reiter noch darauf ſitzt, einfrißt, bis er ſchließlich das ganze arme Opfer heraus- und in ſich hinein¬ gefreſſen hat und plötzlich an Stelle des Reittiers den Heiligen oder Ritter tragend ſelber im Zaum und Sattel ſteckt. Der Eſel iſt in unſerem Falle die Mutter, der Bär das junge Tier und der Zaum die Naſe der Mutter, bloß daß dieſe geradezu mit dem Jungen verwachſen ſoll, was ſo verrückt iſt, daß ſelbſt die Legende es für ihre verwöhnteſten Kinder nicht zu erfinden wagte. Ich will dir aber das Tier vorſtellen, wo mindeſtens etwas verblüffend Ähnliches paſſiert. Freilich müſſen wir da aus dem Reich der Würmer heraus! Bitte rekapituliere dir noch einmal das Gerüſt des höheren tieriſchen Stammbaums. Aus dem einfachen Urdarmtier, der Gaſträa, kamen einerſeits die Polypen, Meduſen, Schwämme. Andererſeits aber die Würmer, in drei Hauptgruppen: den Plattwürmern (Bandwürmer u. a.), den echten Würmern (Faden¬ würmer wie die Trichinen u. v. a.) und den Ringelwürmern (Regenwurm). Auf den Würmern ſtehen dann die vier höchſten Stämme des Tierreichs: die Weichtiere (Schnecken u. a.), die Gliedertiere (Krebſe, Inſekten u. a.), die Wirbeltiere (zu denen du ſelber ſamt Fiſch, Vogel, Eidechſe u. a. m. gehörſt) und die ſo¬ genannten Stachelhäuter, als deren Typus dir der Seeigel und Seeſtern vorſchweben mögen. Alle vier großen Gruppen ſind geſchichtlich aus Würmern hervorgegangen, aber nicht hinter¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/283>, abgerufen am 24.11.2024.