türlich, stirbt und sinkt schließlich eintrocknend wie eine welke Blüte von dem jungen Igel herunter. Münchhausens Bär steckt im Zaum! Der Seeigel, nach vollbrachter innerer Halbierung seiner "Mutter" und im frohen Besitz des mütterlichen, fort¬ gesetzt funktionsfähig erhaltenen Magens, kümmert sich wenig um das abfallende Gespenst: er frißt, wächst, vervollkommnet sich und wird endlich geschlechtsreif wie seine Großeltern waren.
Ich will hier nicht mit dir in die verwickelte zoologische Debatte eintreten, ob dieser märchenhafte Prozeß eine echte "Ammenzeugung" wirklich im Sinne der Bandwurmgeschichte (mit der Pickelhaube als "Amme") sei oder einen besonderen Namen verdiene. Hier sind die Meinungen heute noch keines¬ wegs geklärt und die endgültige Entscheidung hängt wesentlich davon ab, wie man sich darwinistisch die ursprüngliche Ent¬ wickelung eines solchen Seeigels aus einem wurmähnlichen Tiere vorstellen will. Für den denkenden Naturforscher, der die "Geschichte" der Tierwelt, den großen Zusammenhang des Stammbaumes der einzelnen Tiergruppen zu ergründen sucht, hat diese verzwickte Geschichte ja selbstverständlich äußerst lehr¬ reiche Momente. Er erinnert sich an jenes große Grundgesetz der organischen Entwickelung, das in zahllosen Fällen den nach¬ geborenen Geschöpfen vorschreibt, im Ei, als Keim oder Larve noch einmal rasch die Formenreihe der Ahnen durchzulaufen. Der Mensch wird im Mutterleibe noch einmal ein fischähn¬ liches Wesen mit flossenartigen Gliedmaßen und Kiemen am Halse. Der Frosch wird als Kaulquappe Fisch und Molch. So scheint es, muß der junge Seeigel erst noch einmal Wurm werden zum Zeugnis, daß seine Vorfahren Würmer waren. Das ist auf alle Fälle interessant und bemerkenswert genug, -- die volle logische Enträtselung ist aber, wie du dir auch wohl denken kannst, dem Naturforscher eine harte Nuß, an der noch längere Zeit herumgeknackt werden wird. Uns interessiert die Sache hier wesentlich in ihrem rein äußerlichen Hergang, -- sie interessiert uns als neue Verzweigung im "Labyrinth" des
türlich, ſtirbt und ſinkt ſchließlich eintrocknend wie eine welke Blüte von dem jungen Igel herunter. Münchhauſens Bär ſteckt im Zaum! Der Seeigel, nach vollbrachter innerer Halbierung ſeiner „Mutter“ und im frohen Beſitz des mütterlichen, fort¬ geſetzt funktionsfähig erhaltenen Magens, kümmert ſich wenig um das abfallende Geſpenſt: er frißt, wächſt, vervollkommnet ſich und wird endlich geſchlechtsreif wie ſeine Großeltern waren.
Ich will hier nicht mit dir in die verwickelte zoologiſche Debatte eintreten, ob dieſer märchenhafte Prozeß eine echte „Ammenzeugung“ wirklich im Sinne der Bandwurmgeſchichte (mit der Pickelhaube als „Amme“) ſei oder einen beſonderen Namen verdiene. Hier ſind die Meinungen heute noch keines¬ wegs geklärt und die endgültige Entſcheidung hängt weſentlich davon ab, wie man ſich darwiniſtiſch die urſprüngliche Ent¬ wickelung eines ſolchen Seeigels aus einem wurmähnlichen Tiere vorſtellen will. Für den denkenden Naturforſcher, der die „Geſchichte“ der Tierwelt, den großen Zuſammenhang des Stammbaumes der einzelnen Tiergruppen zu ergründen ſucht, hat dieſe verzwickte Geſchichte ja ſelbſtverſtändlich äußerſt lehr¬ reiche Momente. Er erinnert ſich an jenes große Grundgeſetz der organiſchen Entwickelung, das in zahlloſen Fällen den nach¬ geborenen Geſchöpfen vorſchreibt, im Ei, als Keim oder Larve noch einmal raſch die Formenreihe der Ahnen durchzulaufen. Der Menſch wird im Mutterleibe noch einmal ein fiſchähn¬ liches Weſen mit floſſenartigen Gliedmaßen und Kiemen am Halſe. Der Froſch wird als Kaulquappe Fiſch und Molch. So ſcheint es, muß der junge Seeigel erſt noch einmal Wurm werden zum Zeugnis, daß ſeine Vorfahren Würmer waren. Das iſt auf alle Fälle intereſſant und bemerkenswert genug, — die volle logiſche Enträtſelung iſt aber, wie du dir auch wohl denken kannſt, dem Naturforſcher eine harte Nuß, an der noch längere Zeit herumgeknackt werden wird. Uns intereſſiert die Sache hier weſentlich in ihrem rein äußerlichen Hergang, — ſie intereſſiert uns als neue Verzweigung im „Labyrinth“ des
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türlich, ſtirbt und ſinkt ſchließlich eintrocknend wie eine welke
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im Zaum! Der Seeigel, nach vollbrachter innerer Halbierung
ſeiner „Mutter“ und im frohen Beſitz des mütterlichen, fort¬
geſetzt funktionsfähig erhaltenen Magens, kümmert ſich wenig
um das abfallende Geſpenſt: er frißt, wächſt, vervollkommnet ſich
und wird endlich geſchlechtsreif wie ſeine Großeltern waren.
Ich will hier nicht mit dir in die verwickelte zoologiſche
Debatte eintreten, ob dieſer märchenhafte Prozeß eine echte
„Ammenzeugung“ wirklich im Sinne der Bandwurmgeſchichte
(mit der Pickelhaube als „Amme“) ſei oder einen beſonderen
Namen verdiene. Hier ſind die Meinungen heute noch keines¬
wegs geklärt und die endgültige Entſcheidung hängt weſentlich
davon ab, wie man ſich darwiniſtiſch die urſprüngliche Ent¬
wickelung eines ſolchen Seeigels aus einem wurmähnlichen
Tiere vorſtellen will. Für den denkenden Naturforſcher, der
die „Geſchichte“ der Tierwelt, den großen Zuſammenhang des
Stammbaumes der einzelnen Tiergruppen zu ergründen ſucht,
hat dieſe verzwickte Geſchichte ja ſelbſtverſtändlich äußerſt lehr¬
reiche Momente. Er erinnert ſich an jenes große Grundgeſetz
der organiſchen Entwickelung, das in zahlloſen Fällen den nach¬
geborenen Geſchöpfen vorſchreibt, im Ei, als Keim oder Larve
noch einmal raſch die Formenreihe der Ahnen durchzulaufen.
Der Menſch wird im Mutterleibe noch einmal ein fiſchähn¬
liches Weſen mit floſſenartigen Gliedmaßen und Kiemen am
Halſe. Der Froſch wird als Kaulquappe Fiſch und Molch.
So ſcheint es, muß der junge Seeigel erſt noch einmal Wurm
werden zum Zeugnis, daß ſeine Vorfahren Würmer waren.
Das iſt auf alle Fälle intereſſant und bemerkenswert genug, —
die volle logiſche Enträtſelung iſt aber, wie du dir auch wohl
denken kannſt, dem Naturforſcher eine harte Nuß, an der noch
längere Zeit herumgeknackt werden wird. Uns intereſſiert die
Sache hier weſentlich in ihrem rein äußerlichen Hergang, —
ſie intereſſiert uns als neue Verzweigung im „Labyrinth“ des
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/287>, abgerufen am 24.11.2024.
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