schnecke. Oder sie hat wie unsere eßbare Weinbergschnecke eine einzelne, meist gewundene Schale, ein "Haus", aus dem sie beliebig aus- und einkriechen kann.
Die Schnecke ist nach jeder Richtung das höher gebildete Weichtier neben der Muschel, sie hat einen deutlich gesonderten, meist mit beweglichen Fühlern und Augen versehenen Kopf und sie hat nicht bloß Vertreter im Wasser, die mit Kiemen atmen, wie es alle Muscheln ausnahmslos thun, sondern es giebt auch landbewohnende Schnecken, die direkt durch Lungen wie wir Menschen Luft einschöpfen.
Im Sinne geschichtlicher Entwickelung wird das Verhältnis beider Gruppen wohl so sein, daß vor Zeiten aus Würmern gewisse Ur-Schnecken entstanden sind, aus denen sich nach der einen Seite die heutigen Schnecken entwickelt haben, während nach der anderen Seite durch Anpassung an eine konsequent sitzende Lebensweise und eine damit verbundene unzweifelhafte Degeneration die Muscheln entstanden sind. Während du also in der hübschen Weinbergschnecke eine Spitze und Zier des Weichtierreiches verspeist, schluckst du im formlosen Klumpen des Austernleibes den verstockten und etwas verkommenen Pfahl¬ bürger und Philister desselben Reichs.
Und dieser Gegensatz spiegelt sich sehr anschaulich auch im Liebesleben beider, -- der Schnecken wie der Muscheln.
[Abbildung]
So viel Poesie im Austernstübli und seinen stillen Freuden steckt: von der Auster ist bei bestem Willen keine irgendwie anregende Liebesgeschichte zu erzählen.
Die meisten Muscheln sind doppelgeschlechtig, haben aber keinerlei Begattungsorgane und helfen sich in der primitivsten, nur im bewegten Wasser möglichen Weise. Weiblein wie Männ¬ lein, nahe bei einander in ihren Schalen sitzend, erzeugen und entleeren zu ihrer Zeit das eine Eier, das andere Samen.
ſchnecke. Oder ſie hat wie unſere eßbare Weinbergſchnecke eine einzelne, meiſt gewundene Schale, ein „Haus“, aus dem ſie beliebig aus- und einkriechen kann.
Die Schnecke iſt nach jeder Richtung das höher gebildete Weichtier neben der Muſchel, ſie hat einen deutlich geſonderten, meiſt mit beweglichen Fühlern und Augen verſehenen Kopf und ſie hat nicht bloß Vertreter im Waſſer, die mit Kiemen atmen, wie es alle Muſcheln ausnahmslos thun, ſondern es giebt auch landbewohnende Schnecken, die direkt durch Lungen wie wir Menſchen Luft einſchöpfen.
Im Sinne geſchichtlicher Entwickelung wird das Verhältnis beider Gruppen wohl ſo ſein, daß vor Zeiten aus Würmern gewiſſe Ur-Schnecken entſtanden ſind, aus denen ſich nach der einen Seite die heutigen Schnecken entwickelt haben, während nach der anderen Seite durch Anpaſſung an eine konſequent ſitzende Lebensweiſe und eine damit verbundene unzweifelhafte Degeneration die Muſcheln entſtanden ſind. Während du alſo in der hübſchen Weinbergſchnecke eine Spitze und Zier des Weichtierreiches verſpeiſt, ſchluckſt du im formloſen Klumpen des Auſternleibes den verſtockten und etwas verkommenen Pfahl¬ bürger und Philiſter desſelben Reichs.
Und dieſer Gegenſatz ſpiegelt ſich ſehr anſchaulich auch im Liebesleben beider, — der Schnecken wie der Muſcheln.
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So viel Poeſie im Auſternſtübli und ſeinen ſtillen Freuden ſteckt: von der Auſter iſt bei beſtem Willen keine irgendwie anregende Liebesgeſchichte zu erzählen.
Die meiſten Muſcheln ſind doppelgeſchlechtig, haben aber keinerlei Begattungsorgane und helfen ſich in der primitivſten, nur im bewegten Waſſer möglichen Weiſe. Weiblein wie Männ¬ lein, nahe bei einander in ihren Schalen ſitzend, erzeugen und entleeren zu ihrer Zeit das eine Eier, das andere Samen.
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ſchnecke. Oder ſie hat wie unſere eßbare Weinbergſchnecke eine
einzelne, meiſt gewundene Schale, ein „Haus“, aus dem ſie
beliebig aus- und einkriechen kann.
Die Schnecke iſt nach jeder Richtung das höher gebildete
Weichtier neben der Muſchel, ſie hat einen deutlich geſonderten,
meiſt mit beweglichen Fühlern und Augen verſehenen Kopf und
ſie hat nicht bloß Vertreter im Waſſer, die mit Kiemen atmen,
wie es alle Muſcheln ausnahmslos thun, ſondern es giebt auch
landbewohnende Schnecken, die direkt durch Lungen wie wir
Menſchen Luft einſchöpfen.
Im Sinne geſchichtlicher Entwickelung wird das Verhältnis
beider Gruppen wohl ſo ſein, daß vor Zeiten aus Würmern
gewiſſe Ur-Schnecken entſtanden ſind, aus denen ſich nach der
einen Seite die heutigen Schnecken entwickelt haben, während
nach der anderen Seite durch Anpaſſung an eine konſequent
ſitzende Lebensweiſe und eine damit verbundene unzweifelhafte
Degeneration die Muſcheln entſtanden ſind. Während du alſo
in der hübſchen Weinbergſchnecke eine Spitze und Zier des
Weichtierreiches verſpeiſt, ſchluckſt du im formloſen Klumpen
des Auſternleibes den verſtockten und etwas verkommenen Pfahl¬
bürger und Philiſter desſelben Reichs.
Und dieſer Gegenſatz ſpiegelt ſich ſehr anſchaulich auch im
Liebesleben beider, — der Schnecken wie der Muſcheln.
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So viel Poeſie im Auſternſtübli und ſeinen ſtillen Freuden
ſteckt: von der Auſter iſt bei beſtem Willen keine irgendwie
anregende Liebesgeſchichte zu erzählen.
Die meiſten Muſcheln ſind doppelgeſchlechtig, haben aber
keinerlei Begattungsorgane und helfen ſich in der primitivſten,
nur im bewegten Waſſer möglichen Weiſe. Weiblein wie Männ¬
lein, nahe bei einander in ihren Schalen ſitzend, erzeugen und
entleeren zu ihrer Zeit das eine Eier, das andere Samen.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/298>, abgerufen am 24.11.2024.
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