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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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in deinem Speiseschrank räubert, ein Insekt der treue Floh,
dem nichts Menschliches fremd ist, ein Insekt die Wanze, die
dein Lager teilen möchte. Insekten sind die Blattläuse, die
deine Blumen am Fenster aussaugen, ein Insekt ist das
niedliche rote Marienkäferchen, das dir diese Blattläuse weg¬
frißt und von dir mit dem alten Kreuzigungsgruß, den die
Menschen ihren Wohlthätern entgegenbringen, unbarmherzig als
angeblicher "Blumenfeind" zerquetscht wird. Insekten pflegst
du als Imker im Bienenkorb, Insekt ist der grasgrüne Heu¬
schreck, der höchstens ein zimperliches Mädchen erschreckt, wie
die Hornisse, von der man sagt, daß ein Paar genügt, um
den Menschen kampfunfähig zu machen. Ein Insekt ist die
dicke Termite, die in den Tropenländern ihre Burgen fünf
Meter hoch emportürmt, ein Insekt die zarte Libelle, die wie
ein blaues Geistchen deine Kahnfahrt auf dem blumenumsäumten
Wiesenbach begleitet, ein Insekt die schreckliche Phylloxera, die
deine stille Flasche im Sorgenwinkel bedroht.

Alle diese Insekten sind sich im inneren Bau sehr ähnlich,
sie sind gleichsam alle über einen Leisten geschlagen. Allerdings
einen Leisten, der fast genau umgekehrt zu dem steht, nach dem
deine eigene werte Persönlichkeit konstruiert ist.

Du als Mensch bist ein sogenanntes Wirbeltier und ge¬
hörst einem ganz anderen Typus Tier an als das Insekt. Die
Größe thut dabei am wenigsten: die Fledermaus, die so gut
ein waschechtes Wirbeltier ist, wie du, ist zumeist nicht größer
als der Koloß unter den Schmetterlingen, der zimtrote chinesische
Atlasspinner, der in die Verwandtschaft der berühmten Seiden¬
spinner gehört und dreiundzwanzig Zentimeter klaftert. Ein
Insekt auch so groß wie ein Mensch gedacht behielte im wich¬
tigsten seine ganze Eigenart.

Du als Mensch hast ein inneres festes Knochengerüst, das
die Weichteile stützt wie das Holzgestell in einer weichen Thon¬
figur. Die Muskeln setzen sich nach außen an diese Knochen
an. Genau so ist es bei jener Fledermaus, bei deinem Hund

in deinem Speiſeſchrank räubert, ein Inſekt der treue Floh,
dem nichts Menſchliches fremd iſt, ein Inſekt die Wanze, die
dein Lager teilen möchte. Inſekten ſind die Blattläuſe, die
deine Blumen am Fenſter ausſaugen, ein Inſekt iſt das
niedliche rote Marienkäferchen, das dir dieſe Blattläuſe weg¬
frißt und von dir mit dem alten Kreuzigungsgruß, den die
Menſchen ihren Wohlthätern entgegenbringen, unbarmherzig als
angeblicher „Blumenfeind“ zerquetſcht wird. Inſekten pflegſt
du als Imker im Bienenkorb, Inſekt iſt der grasgrüne Heu¬
ſchreck, der höchſtens ein zimperliches Mädchen erſchreckt, wie
die Horniſſe, von der man ſagt, daß ein Paar genügt, um
den Menſchen kampfunfähig zu machen. Ein Inſekt iſt die
dicke Termite, die in den Tropenländern ihre Burgen fünf
Meter hoch emportürmt, ein Inſekt die zarte Libelle, die wie
ein blaues Geiſtchen deine Kahnfahrt auf dem blumenumſäumten
Wieſenbach begleitet, ein Inſekt die ſchreckliche Phylloxera, die
deine ſtille Flaſche im Sorgenwinkel bedroht.

Alle dieſe Inſekten ſind ſich im inneren Bau ſehr ähnlich,
ſie ſind gleichſam alle über einen Leiſten geſchlagen. Allerdings
einen Leiſten, der faſt genau umgekehrt zu dem ſteht, nach dem
deine eigene werte Perſönlichkeit konſtruiert iſt.

Du als Menſch biſt ein ſogenanntes Wirbeltier und ge¬
hörſt einem ganz anderen Typus Tier an als das Inſekt. Die
Größe thut dabei am wenigſten: die Fledermaus, die ſo gut
ein waſchechtes Wirbeltier iſt, wie du, iſt zumeiſt nicht größer
als der Koloß unter den Schmetterlingen, der zimtrote chineſiſche
Atlasſpinner, der in die Verwandtſchaft der berühmten Seiden¬
ſpinner gehört und dreiundzwanzig Zentimeter klaftert. Ein
Inſekt auch ſo groß wie ein Menſch gedacht behielte im wich¬
tigſten ſeine ganze Eigenart.

Du als Menſch haſt ein inneres feſtes Knochengerüſt, das
die Weichteile ſtützt wie das Holzgeſtell in einer weichen Thon¬
figur. Die Muskeln ſetzen ſich nach außen an dieſe Knochen
an. Genau ſo iſt es bei jener Fledermaus, bei deinem Hund

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[304/0320] in deinem Speiſeſchrank räubert, ein Inſekt der treue Floh, dem nichts Menſchliches fremd iſt, ein Inſekt die Wanze, die dein Lager teilen möchte. Inſekten ſind die Blattläuſe, die deine Blumen am Fenſter ausſaugen, ein Inſekt iſt das niedliche rote Marienkäferchen, das dir dieſe Blattläuſe weg¬ frißt und von dir mit dem alten Kreuzigungsgruß, den die Menſchen ihren Wohlthätern entgegenbringen, unbarmherzig als angeblicher „Blumenfeind“ zerquetſcht wird. Inſekten pflegſt du als Imker im Bienenkorb, Inſekt iſt der grasgrüne Heu¬ ſchreck, der höchſtens ein zimperliches Mädchen erſchreckt, wie die Horniſſe, von der man ſagt, daß ein Paar genügt, um den Menſchen kampfunfähig zu machen. Ein Inſekt iſt die dicke Termite, die in den Tropenländern ihre Burgen fünf Meter hoch emportürmt, ein Inſekt die zarte Libelle, die wie ein blaues Geiſtchen deine Kahnfahrt auf dem blumenumſäumten Wieſenbach begleitet, ein Inſekt die ſchreckliche Phylloxera, die deine ſtille Flaſche im Sorgenwinkel bedroht. Alle dieſe Inſekten ſind ſich im inneren Bau ſehr ähnlich, ſie ſind gleichſam alle über einen Leiſten geſchlagen. Allerdings einen Leiſten, der faſt genau umgekehrt zu dem ſteht, nach dem deine eigene werte Perſönlichkeit konſtruiert iſt. Du als Menſch biſt ein ſogenanntes Wirbeltier und ge¬ hörſt einem ganz anderen Typus Tier an als das Inſekt. Die Größe thut dabei am wenigſten: die Fledermaus, die ſo gut ein waſchechtes Wirbeltier iſt, wie du, iſt zumeiſt nicht größer als der Koloß unter den Schmetterlingen, der zimtrote chineſiſche Atlasſpinner, der in die Verwandtſchaft der berühmten Seiden¬ ſpinner gehört und dreiundzwanzig Zentimeter klaftert. Ein Inſekt auch ſo groß wie ein Menſch gedacht behielte im wich¬ tigſten ſeine ganze Eigenart. Du als Menſch haſt ein inneres feſtes Knochengerüſt, das die Weichteile ſtützt wie das Holzgeſtell in einer weichen Thon¬ figur. Die Muskeln ſetzen ſich nach außen an dieſe Knochen an. Genau ſo iſt es bei jener Fledermaus, bei deinem Hund

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/320>, abgerufen am 25.11.2024.