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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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in einen Moment. Aber es steckt die Wallfahrt auf Erden
ungezählter Generationen darin. Über dieser Wallfahrt ragen
wie Fahnen die Namen der Völker, der großen Kulturstätten,
der Ideen empor. Die wundervollen Augen dieses Kindes sind
keine Löcher, -- sie starren nicht aus der Wirklichkeit fort ins
ewig Dunkle. Aber es ist etwas darin wie Träumerei über
endlose Räume und Stundenreihen fort, -- ein Stück Er¬
innerungstraum der Menschheit, die des Künstlers Kraft auf
einen Augenblick zum Individuum gebannt hat .....

Im festen Kern ihrer Gestalt ist diese Madonna ein
Weib. In Rafaels Nähe wird es Gestalten gegeben haben,
die ihr unmittelbar ähnlich waren, die der Beschauer als
irdisches Modell in Fleisch und Blut wiedererkannt hätte. Diese
engsten Beziehungen sind verschollen, -- mit dem ausgelöschten
Menschenindividuum Rafael, dessen Schädel in der alten
heidnischen Götterrotunde des römischen Pantheons schläft, ist
auch all das allzu Persönliche -- vielleicht der Schatten
starker, wilder, liebesatmender Mädchen, die dem asketischen
Gläubigen wohl die Madonnenandacht stören könnten --
hinabgezaubert in die große Vergessenheit, mit so viel anderer
rosenbekränzter Menschlichkeitsliebe, die das Los der Eintags¬
fliege mit ihren zwei Stunden wie ein verwandtes fühlen
mußte ..... Aber es bleibt von allen persönlichen Be¬
ziehungen ledig das Weib.

Der Mensch erscheint, zerrissen in die Zweiheit der Ge¬
schlechter. Mann und Weib. Das ist nicht erst errungen in
der großen Folge zwischen Gorilla und Rafael. Der Herauf¬
gang höherer organischer Entwickelung setzte damit ein. Im
Tierreich wie im Pflanzenreich. Eine tiefe Naturnotwendigkeit,
von der ich dir später erzählen werde, muß dazu gedrängt
haben. Das einzellige Geschöpf niedrigster Art, noch jenseits
von Tier und Pflanze, pflanzt sich fort, indem es sich teilt, --
jeder Teil wird ein neues Individuum. Aber diese schlichte
Methode wird verlassen, indem die Organismen sich vorwärts

in einen Moment. Aber es ſteckt die Wallfahrt auf Erden
ungezählter Generationen darin. Über dieſer Wallfahrt ragen
wie Fahnen die Namen der Völker, der großen Kulturſtätten,
der Ideen empor. Die wundervollen Augen dieſes Kindes ſind
keine Löcher, — ſie ſtarren nicht aus der Wirklichkeit fort ins
ewig Dunkle. Aber es iſt etwas darin wie Träumerei über
endloſe Räume und Stundenreihen fort, — ein Stück Er¬
innerungstraum der Menſchheit, die des Künſtlers Kraft auf
einen Augenblick zum Individuum gebannt hat .....

Im feſten Kern ihrer Geſtalt iſt dieſe Madonna ein
Weib. In Rafaels Nähe wird es Geſtalten gegeben haben,
die ihr unmittelbar ähnlich waren, die der Beſchauer als
irdiſches Modell in Fleiſch und Blut wiedererkannt hätte. Dieſe
engſten Beziehungen ſind verſchollen, — mit dem ausgelöſchten
Menſchenindividuum Rafael, deſſen Schädel in der alten
heidniſchen Götterrotunde des römiſchen Pantheons ſchläft, iſt
auch all das allzu Perſönliche — vielleicht der Schatten
ſtarker, wilder, liebesatmender Mädchen, die dem asketiſchen
Gläubigen wohl die Madonnenandacht ſtören könnten —
hinabgezaubert in die große Vergeſſenheit, mit ſo viel anderer
roſenbekränzter Menſchlichkeitsliebe, die das Los der Eintags¬
fliege mit ihren zwei Stunden wie ein verwandtes fühlen
mußte ..... Aber es bleibt von allen perſönlichen Be¬
ziehungen ledig das Weib.

Der Menſch erſcheint, zerriſſen in die Zweiheit der Ge¬
ſchlechter. Mann und Weib. Das iſt nicht erſt errungen in
der großen Folge zwiſchen Gorilla und Rafael. Der Herauf¬
gang höherer organiſcher Entwickelung ſetzte damit ein. Im
Tierreich wie im Pflanzenreich. Eine tiefe Naturnotwendigkeit,
von der ich dir ſpäter erzählen werde, muß dazu gedrängt
haben. Das einzellige Geſchöpf niedrigſter Art, noch jenſeits
von Tier und Pflanze, pflanzt ſich fort, indem es ſich teilt, —
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[25/0041] in einen Moment. Aber es ſteckt die Wallfahrt auf Erden ungezählter Generationen darin. Über dieſer Wallfahrt ragen wie Fahnen die Namen der Völker, der großen Kulturſtätten, der Ideen empor. Die wundervollen Augen dieſes Kindes ſind keine Löcher, — ſie ſtarren nicht aus der Wirklichkeit fort ins ewig Dunkle. Aber es iſt etwas darin wie Träumerei über endloſe Räume und Stundenreihen fort, — ein Stück Er¬ innerungstraum der Menſchheit, die des Künſtlers Kraft auf einen Augenblick zum Individuum gebannt hat ..... Im feſten Kern ihrer Geſtalt iſt dieſe Madonna ein Weib. In Rafaels Nähe wird es Geſtalten gegeben haben, die ihr unmittelbar ähnlich waren, die der Beſchauer als irdiſches Modell in Fleiſch und Blut wiedererkannt hätte. Dieſe engſten Beziehungen ſind verſchollen, — mit dem ausgelöſchten Menſchenindividuum Rafael, deſſen Schädel in der alten heidniſchen Götterrotunde des römiſchen Pantheons ſchläft, iſt auch all das allzu Perſönliche — vielleicht der Schatten ſtarker, wilder, liebesatmender Mädchen, die dem asketiſchen Gläubigen wohl die Madonnenandacht ſtören könnten — hinabgezaubert in die große Vergeſſenheit, mit ſo viel anderer roſenbekränzter Menſchlichkeitsliebe, die das Los der Eintags¬ fliege mit ihren zwei Stunden wie ein verwandtes fühlen mußte ..... Aber es bleibt von allen perſönlichen Be¬ ziehungen ledig das Weib. Der Menſch erſcheint, zerriſſen in die Zweiheit der Ge¬ ſchlechter. Mann und Weib. Das iſt nicht erſt errungen in der großen Folge zwiſchen Gorilla und Rafael. Der Herauf¬ gang höherer organiſcher Entwickelung ſetzte damit ein. Im Tierreich wie im Pflanzenreich. Eine tiefe Naturnotwendigkeit, von der ich dir ſpäter erzählen werde, muß dazu gedrängt haben. Das einzellige Geſchöpf niedrigſter Art, noch jenſeits von Tier und Pflanze, pflanzt ſich fort, indem es ſich teilt, — jeder Teil wird ein neues Individuum. Aber dieſe ſchlichte Methode wird verlaſſen, indem die Organismen ſich vorwärts

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/41>, abgerufen am 21.11.2024.