verkündete ein einsamer Denker aus der Tiefe seines Herzens heraus der zagen Menge das Evangelium vom Erwachen der Menschenliebe. Fortan war das Wort in der Welt und konnte nicht mehr sterben. Der Begriff dazu war damals freilich selber schon alt. Er hing nicht an einer Stunde, nicht an dem Munde eines Einzelmenschen. Mindestens ein Jahr¬ tausend lang vor Christus war die Welt in allen Tiefen schon schwanger gewesen mit dieser Idee. Nur daß sie jetzt auf einmal emporflammte und über die Völker dahin brannte, gleich einer jener geheimnisvollen Erdgasquellen der sogenannten ewigen Feuer von Baku, die Äonen durch unsichtbar aus der Erde aufsteigen mögen, bis die Hand eines Einzigen, vielleicht eines Kindes, einen Funken hineinwirft und jetzt die Lohe zu abermals äonenlangem Brande entfacht ...
Der Zeit selbst erschien das Wort, der zündende Augen¬ blicksfunke, der aus dem Dunkel jäh diese Lichtgarbe ohne¬ gleichen riß, so übergewaltig groß, daß ihr die Erde dafür zu klein dünkte. Der natürliche Lauf der Dinge sollte durchbrachen sein. Der Blitz der Menschenliebe, so hieß es, zuckte aus einer anderen, bisher unbekannten Welt, einer dunklen Wolke jenseits alles Irdischen, die auch außerhalb der ganzen ge¬ gebenen Menschheitsentwickelung stand. Unter den Schauern dieses Furchtbaren riß Liebe von Liebe. Die Menschheitsliebe sollte kein Teil haben an der Geschlechtsliebe. Sie sollte keine Knospe sein, sondern ein Meteor, das fremd, ja zerstörend in diese irdischen Liebessaaten fiel.
Diese Deutung war in Rafaels Tagen noch fast allmächtig. Heute ist sie stark eigentlich nur noch durch Tradition. Uns erscheinen die Wunder des Wirklichen, die Wunder der natür¬ lichen Entwickelung groß genug, daß auch ein solcher Riesen¬ moment wie die Verkündigung der Menschenliebe restlos in sie fallen mag. Es bedarf des besonderen Wunders nicht. Alle Schauer der äußersten Erhabenheit umwehen uns, gerade wenn der Blick sich anschickt, auch hier nur ein gesetz¬
verkündete ein einſamer Denker aus der Tiefe ſeines Herzens heraus der zagen Menge das Evangelium vom Erwachen der Menſchenliebe. Fortan war das Wort in der Welt und konnte nicht mehr ſterben. Der Begriff dazu war damals freilich ſelber ſchon alt. Er hing nicht an einer Stunde, nicht an dem Munde eines Einzelmenſchen. Mindeſtens ein Jahr¬ tauſend lang vor Chriſtus war die Welt in allen Tiefen ſchon ſchwanger geweſen mit dieſer Idee. Nur daß ſie jetzt auf einmal emporflammte und über die Völker dahin brannte, gleich einer jener geheimnisvollen Erdgasquellen der ſogenannten ewigen Feuer von Baku, die Äonen durch unſichtbar aus der Erde aufſteigen mögen, bis die Hand eines Einzigen, vielleicht eines Kindes, einen Funken hineinwirft und jetzt die Lohe zu abermals äonenlangem Brande entfacht ...
Der Zeit ſelbſt erſchien das Wort, der zündende Augen¬ blicksfunke, der aus dem Dunkel jäh dieſe Lichtgarbe ohne¬ gleichen riß, ſo übergewaltig groß, daß ihr die Erde dafür zu klein dünkte. Der natürliche Lauf der Dinge ſollte durchbrachen ſein. Der Blitz der Menſchenliebe, ſo hieß es, zuckte aus einer anderen, bisher unbekannten Welt, einer dunklen Wolke jenſeits alles Irdiſchen, die auch außerhalb der ganzen ge¬ gebenen Menſchheitsentwickelung ſtand. Unter den Schauern dieſes Furchtbaren riß Liebe von Liebe. Die Menſchheitsliebe ſollte kein Teil haben an der Geſchlechtsliebe. Sie ſollte keine Knoſpe ſein, ſondern ein Meteor, das fremd, ja zerſtörend in dieſe irdiſchen Liebesſaaten fiel.
Dieſe Deutung war in Rafaels Tagen noch faſt allmächtig. Heute iſt ſie ſtark eigentlich nur noch durch Tradition. Uns erſcheinen die Wunder des Wirklichen, die Wunder der natür¬ lichen Entwickelung groß genug, daß auch ein ſolcher Rieſen¬ moment wie die Verkündigung der Menſchenliebe reſtlos in ſie fallen mag. Es bedarf des beſonderen Wunders nicht. Alle Schauer der äußerſten Erhabenheit umwehen uns, gerade wenn der Blick ſich anſchickt, auch hier nur ein geſetz¬
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verkündete ein einſamer Denker aus der Tiefe ſeines Herzens
heraus der zagen Menge das Evangelium vom Erwachen der
Menſchenliebe. Fortan war das Wort in der Welt und konnte
nicht mehr ſterben. Der Begriff dazu war damals freilich
ſelber ſchon alt. Er hing nicht an einer Stunde, nicht an
dem Munde eines Einzelmenſchen. Mindeſtens ein Jahr¬
tauſend lang vor Chriſtus war die Welt in allen Tiefen ſchon
ſchwanger geweſen mit dieſer Idee. Nur daß ſie jetzt auf
einmal emporflammte und über die Völker dahin brannte,
gleich einer jener geheimnisvollen Erdgasquellen der ſogenannten
ewigen Feuer von Baku, die Äonen durch unſichtbar aus der
Erde aufſteigen mögen, bis die Hand eines Einzigen, vielleicht
eines Kindes, einen Funken hineinwirft und jetzt die Lohe zu
abermals äonenlangem Brande entfacht ...
Der Zeit ſelbſt erſchien das Wort, der zündende Augen¬
blicksfunke, der aus dem Dunkel jäh dieſe Lichtgarbe ohne¬
gleichen riß, ſo übergewaltig groß, daß ihr die Erde dafür zu
klein dünkte. Der natürliche Lauf der Dinge ſollte durchbrachen
ſein. Der Blitz der Menſchenliebe, ſo hieß es, zuckte aus
einer anderen, bisher unbekannten Welt, einer dunklen Wolke
jenſeits alles Irdiſchen, die auch außerhalb der ganzen ge¬
gebenen Menſchheitsentwickelung ſtand. Unter den Schauern
dieſes Furchtbaren riß Liebe von Liebe. Die Menſchheitsliebe
ſollte kein Teil haben an der Geſchlechtsliebe. Sie ſollte keine
Knoſpe ſein, ſondern ein Meteor, das fremd, ja zerſtörend in
dieſe irdiſchen Liebesſaaten fiel.
Dieſe Deutung war in Rafaels Tagen noch faſt allmächtig.
Heute iſt ſie ſtark eigentlich nur noch durch Tradition. Uns
erſcheinen die Wunder des Wirklichen, die Wunder der natür¬
lichen Entwickelung groß genug, daß auch ein ſolcher Rieſen¬
moment wie die Verkündigung der Menſchenliebe reſtlos in
ſie fallen mag. Es bedarf des beſonderen Wunders nicht.
Alle Schauer der äußerſten Erhabenheit umwehen uns, gerade
wenn der Blick ſich anſchickt, auch hier nur ein geſetz¬
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/48>, abgerufen am 23.11.2024.
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