gerade dem, auf dessen Gesamtheraufgang sich unser Optimis¬ mus stützt -- eine eherne Forderung klingt. Vernichtung des Individuums. Gerade über diese Vernichtung scheint die Ent¬ wickelung zu gehen. Und die Seele bebt unter den Schauern der Todesangst. Wenn aber nun die Liebe doch das Symbol wäre? Sie lehrt uns die einzige Form, wo die Vernichtung nicht grauenvoll ist. Wo sie ein seliges Aufsteigen in eine höhere Gemeinschaft ist. Wenn der Tod des Individuums nun auch in seiner bangen Form nichts anderes wäre als ein ver¬ kannter Liebesakt? Über den nach allem bitteren Sträuben zuletzt doch auch die vollkommene Seligkeit des lebendigen Auf¬ gehens in eine höhere Gemeinschaft käme, wie sie die Liebe giebt .....
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"Wohl endet Tod des Lebens Not, Doch schauert Leben vor dem Tod -- Das Leben sieht die dunkle Hand, Den blanken Kelch nicht, den sie bot. So schauert vor der Lieb' ein Herz, Als wie vom Untergang bedroht, Denn wo die Lieb' erwachet, stirbt Das Ich, der dunkele Despot. Du, laß ihn sterben über Nacht Und atme frei im Morgenrot."
(Rückert nach Raumei, um 1250 n. Chr.)
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Nur wie durch einen Riß in den Wolken kannst du das heute erst schauen. Denn die neue Weltanschauung formt sich noch, ballt sich, verdichtet sich und wirft Ringe selber erst wie ein werdender Stern. Wer will ahnen, was einst alles noch um sie kreisen und wer ihre Sonne werden wird. Aber der Blick genügt. Auch diese Wanderschaft der Menschheit nach dem Weltenlicht geht in immer weitere Weiten hinaus. Und in alle diese Weiten wandert der alte Ahasver, die Liebe, ruhelos mit.
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gerade dem, auf deſſen Geſamtheraufgang ſich unſer Optimis¬ mus ſtützt — eine eherne Forderung klingt. Vernichtung des Individuums. Gerade über dieſe Vernichtung ſcheint die Ent¬ wickelung zu gehen. Und die Seele bebt unter den Schauern der Todesangſt. Wenn aber nun die Liebe doch das Symbol wäre? Sie lehrt uns die einzige Form, wo die Vernichtung nicht grauenvoll iſt. Wo ſie ein ſeliges Aufſteigen in eine höhere Gemeinſchaft iſt. Wenn der Tod des Individuums nun auch in ſeiner bangen Form nichts anderes wäre als ein ver¬ kannter Liebesakt? Über den nach allem bitteren Sträuben zuletzt doch auch die vollkommene Seligkeit des lebendigen Auf¬ gehens in eine höhere Gemeinſchaft käme, wie ſie die Liebe giebt .....
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„Wohl endet Tod des Lebens Not, Doch ſchauert Leben vor dem Tod — Das Leben ſieht die dunkle Hand, Den blanken Kelch nicht, den ſie bot. So ſchauert vor der Lieb' ein Herz, Als wie vom Untergang bedroht, Denn wo die Lieb' erwachet, ſtirbt Das Ich, der dunkele Deſpot. Du, laß ihn ſterben über Nacht Und atme frei im Morgenrot.“
(Rückert nach Rûmî, um 1250 n. Chr.)
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Nur wie durch einen Riß in den Wolken kannſt du das heute erſt ſchauen. Denn die neue Weltanſchauung formt ſich noch, ballt ſich, verdichtet ſich und wirft Ringe ſelber erſt wie ein werdender Stern. Wer will ahnen, was einſt alles noch um ſie kreiſen und wer ihre Sonne werden wird. Aber der Blick genügt. Auch dieſe Wanderſchaft der Menſchheit nach dem Weltenlicht geht in immer weitere Weiten hinaus. Und in alle dieſe Weiten wandert der alte Ahasver, die Liebe, ruhelos mit.
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gerade dem, auf deſſen Geſamtheraufgang ſich unſer Optimis¬
mus ſtützt — eine eherne Forderung klingt. Vernichtung des
Individuums. Gerade über dieſe Vernichtung ſcheint die Ent¬
wickelung zu gehen. Und die Seele bebt unter den Schauern
der Todesangſt. Wenn aber nun die Liebe doch das Symbol
wäre? Sie lehrt uns die einzige Form, wo die Vernichtung
nicht grauenvoll iſt. Wo ſie ein ſeliges Aufſteigen in eine
höhere Gemeinſchaft iſt. Wenn der Tod des Individuums nun
auch in ſeiner bangen Form nichts anderes wäre als ein ver¬
kannter Liebesakt? Über den nach allem bitteren Sträuben
zuletzt doch auch die vollkommene Seligkeit des lebendigen Auf¬
gehens in eine höhere Gemeinſchaft käme, wie ſie die Liebe
giebt .....
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„Wohl endet Tod des Lebens Not,
Doch ſchauert Leben vor dem Tod —
Das Leben ſieht die dunkle Hand,
Den blanken Kelch nicht, den ſie bot.
So ſchauert vor der Lieb' ein Herz,
Als wie vom Untergang bedroht,
Denn wo die Lieb' erwachet, ſtirbt
Das Ich, der dunkele Deſpot.
Du, laß ihn ſterben über Nacht
Und atme frei im Morgenrot.“
(Rückert nach Rûmî, um 1250 n. Chr.)
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Nur wie durch einen Riß in den Wolken kannſt du das
heute erſt ſchauen. Denn die neue Weltanſchauung formt ſich
noch, ballt ſich, verdichtet ſich und wirft Ringe ſelber erſt wie
ein werdender Stern. Wer will ahnen, was einſt alles noch
um ſie kreiſen und wer ihre Sonne werden wird. Aber der
Blick genügt. Auch dieſe Wanderſchaft der Menſchheit nach dem
Weltenlicht geht in immer weitere Weiten hinaus. Und in alle
dieſe Weiten wandert der alte Ahasver, die Liebe, ruhelos mit.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/55>, abgerufen am 24.11.2024.
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