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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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wirklich sich vergegenwärtigt, welche Hekatomben ohne jede
Rücksicht auf Wert oder Nichtwert, ideale Größe oder voll¬
kommene Lächerlichkeit hingemäht worden sind. Der Einzelne
erlebt in den Jahren seiner Existenz die Bekanntschaft mit glück¬
lichen und siegreichen Naturen, die das Unbekannte der Erde
durchwandert haben; die in den Schacht der Vorwelt hinab¬
getaucht sind; die mit Auge und Geist durch Milchstraßen und
Siriusweiten geflogen sind. Was nützt all diese Weite. Die
Individuengeneration dieser Forscher allein auf der Erde --
hundert Jahre: ein paar uralte gebeugte, fast oder ganz blinde
Greise schleppten sich noch als letzter Menschenrest auf dem ver¬
ödeten Planeten Erde kümmerlich dahin. Noch ein viertel
Säkulum: und es herrschte jene Wüstenstille des ausgestorbenen
Sterns, die wir uns als höchstes Grauenbild vielleicht bei
unserem Monde denken oder in den Tiefen des Alls auf eisigen
Trabanten nachtschwarz erloschener Ursonnen träumen.

Das ist die eine sichere Beobachtung: der Tod.

Nun die zweite. Der Mensch lernt einen wunderbaren
Akt kennen, der ihn aus derselben Wirklichkeit, die den Tod
als ewigen Schattenstreifen durch alle seine Hoffnungen schleift,
wie eine ewige Sonne anstrahlt.

Den Akt der Zeugung.

Ein Weib entflammt seine Sinne, unendliche Seligkeiten
durchströmen ihn für einen Moment. Sie fliegen selbst gleich
wieder dahin, wie alle Lust und Kraft der Kreatur als solche
alsbald verwehen und nur noch schattenhafte Erinnerung sind, --
Erinnerung, die mit allem anderen Besitztum des Individuums
schließlich auch in den Schlund des Todes stürzen wird. Aber
aus dem Akt zwischen Mann und Weib erwächst unabhängig
davon ein ganz Neues. Ein neuer Mensch. Der Zeugende
ist vielleicht dreißig Jahre alt. Neunzig soll er alt werden,
dann aber trifft ihn der Tod. Auch der neue Mensch, den er
gezeugt hat, mag die vollen Neunzig erreichen. Dann wird er
dreißig Jahre fortdauern über jenen hinaus. Und wenn er

wirklich ſich vergegenwärtigt, welche Hekatomben ohne jede
Rückſicht auf Wert oder Nichtwert, ideale Größe oder voll¬
kommene Lächerlichkeit hingemäht worden ſind. Der Einzelne
erlebt in den Jahren ſeiner Exiſtenz die Bekanntſchaft mit glück¬
lichen und ſiegreichen Naturen, die das Unbekannte der Erde
durchwandert haben; die in den Schacht der Vorwelt hinab¬
getaucht ſind; die mit Auge und Geiſt durch Milchſtraßen und
Siriusweiten geflogen ſind. Was nützt all dieſe Weite. Die
Individuengeneration dieſer Forſcher allein auf der Erde —
hundert Jahre: ein paar uralte gebeugte, faſt oder ganz blinde
Greiſe ſchleppten ſich noch als letzter Menſchenreſt auf dem ver¬
ödeten Planeten Erde kümmerlich dahin. Noch ein viertel
Säkulum: und es herrſchte jene Wüſtenſtille des ausgeſtorbenen
Sterns, die wir uns als höchſtes Grauenbild vielleicht bei
unſerem Monde denken oder in den Tiefen des Alls auf eiſigen
Trabanten nachtſchwarz erloſchener Urſonnen träumen.

Das iſt die eine ſichere Beobachtung: der Tod.

Nun die zweite. Der Menſch lernt einen wunderbaren
Akt kennen, der ihn aus derſelben Wirklichkeit, die den Tod
als ewigen Schattenſtreifen durch alle ſeine Hoffnungen ſchleift,
wie eine ewige Sonne anſtrahlt.

Den Akt der Zeugung.

Ein Weib entflammt ſeine Sinne, unendliche Seligkeiten
durchſtrömen ihn für einen Moment. Sie fliegen ſelbſt gleich
wieder dahin, wie alle Luſt und Kraft der Kreatur als ſolche
alsbald verwehen und nur noch ſchattenhafte Erinnerung ſind, —
Erinnerung, die mit allem anderen Beſitztum des Individuums
ſchließlich auch in den Schlund des Todes ſtürzen wird. Aber
aus dem Akt zwiſchen Mann und Weib erwächſt unabhängig
davon ein ganz Neues. Ein neuer Menſch. Der Zeugende
iſt vielleicht dreißig Jahre alt. Neunzig ſoll er alt werden,
dann aber trifft ihn der Tod. Auch der neue Menſch, den er
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[68/0084] wirklich ſich vergegenwärtigt, welche Hekatomben ohne jede Rückſicht auf Wert oder Nichtwert, ideale Größe oder voll¬ kommene Lächerlichkeit hingemäht worden ſind. Der Einzelne erlebt in den Jahren ſeiner Exiſtenz die Bekanntſchaft mit glück¬ lichen und ſiegreichen Naturen, die das Unbekannte der Erde durchwandert haben; die in den Schacht der Vorwelt hinab¬ getaucht ſind; die mit Auge und Geiſt durch Milchſtraßen und Siriusweiten geflogen ſind. Was nützt all dieſe Weite. Die Individuengeneration dieſer Forſcher allein auf der Erde — hundert Jahre: ein paar uralte gebeugte, faſt oder ganz blinde Greiſe ſchleppten ſich noch als letzter Menſchenreſt auf dem ver¬ ödeten Planeten Erde kümmerlich dahin. Noch ein viertel Säkulum: und es herrſchte jene Wüſtenſtille des ausgeſtorbenen Sterns, die wir uns als höchſtes Grauenbild vielleicht bei unſerem Monde denken oder in den Tiefen des Alls auf eiſigen Trabanten nachtſchwarz erloſchener Urſonnen träumen. Das iſt die eine ſichere Beobachtung: der Tod. Nun die zweite. Der Menſch lernt einen wunderbaren Akt kennen, der ihn aus derſelben Wirklichkeit, die den Tod als ewigen Schattenſtreifen durch alle ſeine Hoffnungen ſchleift, wie eine ewige Sonne anſtrahlt. Den Akt der Zeugung. Ein Weib entflammt ſeine Sinne, unendliche Seligkeiten durchſtrömen ihn für einen Moment. Sie fliegen ſelbſt gleich wieder dahin, wie alle Luſt und Kraft der Kreatur als ſolche alsbald verwehen und nur noch ſchattenhafte Erinnerung ſind, — Erinnerung, die mit allem anderen Beſitztum des Individuums ſchließlich auch in den Schlund des Todes ſtürzen wird. Aber aus dem Akt zwiſchen Mann und Weib erwächſt unabhängig davon ein ganz Neues. Ein neuer Menſch. Der Zeugende iſt vielleicht dreißig Jahre alt. Neunzig ſoll er alt werden, dann aber trifft ihn der Tod. Auch der neue Menſch, den er gezeugt hat, mag die vollen Neunzig erreichen. Dann wird er dreißig Jahre fortdauern über jenen hinaus. Und wenn er

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/84>, abgerufen am 24.11.2024.