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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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wellen, die von mir zu dir fließen. Gleich gehen wir aber
jeder für sich nach Hause und der Stiel ist wieder abgebrochen.
Das ist das große Wunder auch hier wieder, das der Mensch
vollbracht hat: die ewige Abbreche- und Neubau-Möglichkeit
der Brücke von Individuum zu Individuum. Es ist dasselbe
heilige Prinzip, das in Wahrheit unser helfender Prometheus
auf Erden gewesen ist: angewachsene Organe überhaupt zu
ersetzen durch Werkzeuge. Du mußt dir eben bloß unter
solchem Werkzeug nicht nur Messer und Hebel vorstellen. Auch
die Schallwellen der Luft, auf bestimmte vereinbarte Zeichen
geordnet, sind eines, auch die Lichtwellen eines, die vom
reflektierten weißen Blatt des Buches dein Auge berühren und
in deren Masse die anders oder gar nicht reflektierenden
Stellen, wo die Buchstaben stehen, einen bestimmten Einschnitt
oder schwarzen Fleck bilden, der deinem Hirn ein ebenso ver¬
einbartes Zeichen giebt.

Erst durch diese Werkzeugs-Einschaltung bei der höheren
Individualbildung, der "Stockbildung" des Menschen, ist jene
Personen-Freiheit, die ein so hohes Entwickelungsgut des
Menschen war, recht eigentlich gekrönt und vollendet worden.
Eins bleibt ja natürlich auch hier "vorbehaltlich". Wir
haben allenthalben heute da, wo wir soziale Einigungen der
Menschen wahrnehmen, immerzu noch Vergewaltigungen, Unter¬
drückungen dieser Personenfreiheit auch bei uns in Hülle und
Fülle. Wenn du jene Rubriken, die ich vorhin erwähnte,
ansiehst: Staat, Gesellschaftsstände, Kasten und Gewerbezünfte,
Parteien, -- und so weiter und so weiter -- ja du lieber
Gott! Da siehst du allenthalben so himmelschreiende Verge¬
waltigungen des einzelnen Menschen-Individuums, daß das
bischen Bewegungsunfreiheit bei den stielverwachsenen Siphono¬
phoren oft recht wie ein Kinderspiel dagegen erscheint. Denn
im ganzen ist der Siphonophoren-Überleib darin wenigstens
ein Abbild deines eigenen gesunden Zell-Leibes, daß unter
normalen Verhältnissen niemand gröblich darin übervorteilt

wellen, die von mir zu dir fließen. Gleich gehen wir aber
jeder für ſich nach Hauſe und der Stiel iſt wieder abgebrochen.
Das iſt das große Wunder auch hier wieder, das der Menſch
vollbracht hat: die ewige Abbreche- und Neubau-Möglichkeit
der Brücke von Individuum zu Individuum. Es iſt daſſelbe
heilige Prinzip, das in Wahrheit unſer helfender Prometheus
auf Erden geweſen iſt: angewachſene Organe überhaupt zu
erſetzen durch Werkzeuge. Du mußt dir eben bloß unter
ſolchem Werkzeug nicht nur Meſſer und Hebel vorſtellen. Auch
die Schallwellen der Luft, auf beſtimmte vereinbarte Zeichen
geordnet, ſind eines, auch die Lichtwellen eines, die vom
reflektierten weißen Blatt des Buches dein Auge berühren und
in deren Maſſe die anders oder gar nicht reflektierenden
Stellen, wo die Buchſtaben ſtehen, einen beſtimmten Einſchnitt
oder ſchwarzen Fleck bilden, der deinem Hirn ein ebenſo ver¬
einbartes Zeichen giebt.

Erſt durch dieſe Werkzeugs-Einſchaltung bei der höheren
Individualbildung, der „Stockbildung“ des Menſchen, iſt jene
Perſonen-Freiheit, die ein ſo hohes Entwickelungsgut des
Menſchen war, recht eigentlich gekrönt und vollendet worden.
Eins bleibt ja natürlich auch hier „vorbehaltlich“. Wir
haben allenthalben heute da, wo wir ſoziale Einigungen der
Menſchen wahrnehmen, immerzu noch Vergewaltigungen, Unter¬
drückungen dieſer Perſonenfreiheit auch bei uns in Hülle und
Fülle. Wenn du jene Rubriken, die ich vorhin erwähnte,
anſiehſt: Staat, Geſellſchaftsſtände, Kaſten und Gewerbezünfte,
Parteien, — und ſo weiter und ſo weiter — ja du lieber
Gott! Da ſiehſt du allenthalben ſo himmelſchreiende Verge¬
waltigungen des einzelnen Menſchen-Individuums, daß das
bischen Bewegungsunfreiheit bei den ſtielverwachſenen Siphono¬
phoren oft recht wie ein Kinderſpiel dagegen erſcheint. Denn
im ganzen iſt der Siphonophoren-Überleib darin wenigſtens
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[136/0152] wellen, die von mir zu dir fließen. Gleich gehen wir aber jeder für ſich nach Hauſe und der Stiel iſt wieder abgebrochen. Das iſt das große Wunder auch hier wieder, das der Menſch vollbracht hat: die ewige Abbreche- und Neubau-Möglichkeit der Brücke von Individuum zu Individuum. Es iſt daſſelbe heilige Prinzip, das in Wahrheit unſer helfender Prometheus auf Erden geweſen iſt: angewachſene Organe überhaupt zu erſetzen durch Werkzeuge. Du mußt dir eben bloß unter ſolchem Werkzeug nicht nur Meſſer und Hebel vorſtellen. Auch die Schallwellen der Luft, auf beſtimmte vereinbarte Zeichen geordnet, ſind eines, auch die Lichtwellen eines, die vom reflektierten weißen Blatt des Buches dein Auge berühren und in deren Maſſe die anders oder gar nicht reflektierenden Stellen, wo die Buchſtaben ſtehen, einen beſtimmten Einſchnitt oder ſchwarzen Fleck bilden, der deinem Hirn ein ebenſo ver¬ einbartes Zeichen giebt. Erſt durch dieſe Werkzeugs-Einſchaltung bei der höheren Individualbildung, der „Stockbildung“ des Menſchen, iſt jene Perſonen-Freiheit, die ein ſo hohes Entwickelungsgut des Menſchen war, recht eigentlich gekrönt und vollendet worden. Eins bleibt ja natürlich auch hier „vorbehaltlich“. Wir haben allenthalben heute da, wo wir ſoziale Einigungen der Menſchen wahrnehmen, immerzu noch Vergewaltigungen, Unter¬ drückungen dieſer Perſonenfreiheit auch bei uns in Hülle und Fülle. Wenn du jene Rubriken, die ich vorhin erwähnte, anſiehſt: Staat, Geſellſchaftsſtände, Kaſten und Gewerbezünfte, Parteien, — und ſo weiter und ſo weiter — ja du lieber Gott! Da ſiehſt du allenthalben ſo himmelſchreiende Verge¬ waltigungen des einzelnen Menſchen-Individuums, daß das bischen Bewegungsunfreiheit bei den ſtielverwachſenen Siphono¬ phoren oft recht wie ein Kinderſpiel dagegen erſcheint. Denn im ganzen iſt der Siphonophoren-Überleib darin wenigſtens ein Abbild deines eigenen geſunden Zell-Leibes, daß unter normalen Verhältniſſen niemand gröblich darin übervorteilt

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/152>, abgerufen am 22.11.2024.