Gieb dich selbst den kühnsten Phantasiebildern hin und male dir Vorgänge als möglich aus, wie sie bei der heute so bewährten künstlichen Fischzucht angewandt werden. Da be¬ mächtigt sich der Mensch der austretenden Samenzellen (Milch) und Eizellen (Rogen) von zeugungsreifen Fischen, füllt beide Produkte in Flaschen, die sich mehrere Tage bequem aufbe¬ wahren lassen, und vollzieht selber durch Zugießen des einen Stoffs zum andern je nach Bedarf die Zeugung, -- schließt also gewissermaßen nachträglich und künstlich noch den Ring des Liebesindividuums. Denke dir kühnster Weise selbst so etwas beim Menschen möglich und denke dir, daß auch diese Produkte noch versandt werden könnten. Selbst in dieser äußersten Phantasie-Möglichkeit bleibt die endliche Vermischung der Ei¬ zelle und Samenzelle einzige, aber absolute Notwendigkeit. Der Vorgang wäre so zu sagen bis ins Mikroskopische getrieben, hier unter dem Mikroskop aber vollzöge sich doch noch die letzte Distance-Aufhebung, die Mischung Leib in Leib.
Das menschliche Liebesindividuum ist also schlechterdings ein ganz bestimmter, mit nichts vergleichbarer Sonderfall inner¬ halb der allgemeinen Bildung menschlicher Überindividuen. Es hat eine einzige Stelle, wo es nicht denkbar scheint, daß der Raum von der einen Person zur andern im genossenschaft¬ lichen Individuum jemals durch künstliche Werkzeuge überbrückt werden könnte, die den Distance-Unterschied gleichgültig machten. Du kannst dir denken, daß du bei vervollkommneter Technik mit dem Mars durch Lichtsignale sprechen könntest . . . aber nicht, daß du eine echte Zeugung vollziehen könntest, bei der zwischen der Samenzelle und der Eizelle auch nur die Distance eines winzigen Millimeterbruchteils bliebe. Aus dieser That¬ sache ergeben sich nun weitere Folgerungen sofort. Auf das Liebesindividuum findet jenes Robinson-Ideal von vornherein keine Anwendung. Jener ideale Robinson auf Salas y Gomez könnte, mit dem gesamten Wissen der Menschheit im Kopf, wie eine Samenzelle die ganze Kultur aus sich allein wiedererzeugen.
Gieb dich ſelbſt den kühnſten Phantaſiebildern hin und male dir Vorgänge als möglich aus, wie ſie bei der heute ſo bewährten künſtlichen Fiſchzucht angewandt werden. Da be¬ mächtigt ſich der Menſch der austretenden Samenzellen (Milch) und Eizellen (Rogen) von zeugungsreifen Fiſchen, füllt beide Produkte in Flaſchen, die ſich mehrere Tage bequem aufbe¬ wahren laſſen, und vollzieht ſelber durch Zugießen des einen Stoffs zum andern je nach Bedarf die Zeugung, — ſchließt alſo gewiſſermaßen nachträglich und künſtlich noch den Ring des Liebesindividuums. Denke dir kühnſter Weiſe ſelbſt ſo etwas beim Menſchen möglich und denke dir, daß auch dieſe Produkte noch verſandt werden könnten. Selbſt in dieſer äußerſten Phantaſie-Möglichkeit bleibt die endliche Vermiſchung der Ei¬ zelle und Samenzelle einzige, aber abſolute Notwendigkeit. Der Vorgang wäre ſo zu ſagen bis ins Mikroſkopiſche getrieben, hier unter dem Mikroſkop aber vollzöge ſich doch noch die letzte Diſtance-Aufhebung, die Miſchung Leib in Leib.
Das menſchliche Liebesindividuum iſt alſo ſchlechterdings ein ganz beſtimmter, mit nichts vergleichbarer Sonderfall inner¬ halb der allgemeinen Bildung menſchlicher Überindividuen. Es hat eine einzige Stelle, wo es nicht denkbar ſcheint, daß der Raum von der einen Perſon zur andern im genoſſenſchaft¬ lichen Individuum jemals durch künſtliche Werkzeuge überbrückt werden könnte, die den Diſtance-Unterſchied gleichgültig machten. Du kannſt dir denken, daß du bei vervollkommneter Technik mit dem Mars durch Lichtſignale ſprechen könnteſt . . . aber nicht, daß du eine echte Zeugung vollziehen könnteſt, bei der zwiſchen der Samenzelle und der Eizelle auch nur die Diſtance eines winzigen Millimeterbruchteils bliebe. Aus dieſer That¬ ſache ergeben ſich nun weitere Folgerungen ſofort. Auf das Liebesindividuum findet jenes Robinſon-Ideal von vornherein keine Anwendung. Jener ideale Robinſon auf Salas y Gomez könnte, mit dem geſamten Wiſſen der Menſchheit im Kopf, wie eine Samenzelle die ganze Kultur aus ſich allein wiedererzeugen.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0159"n="143"/><p>Gieb dich ſelbſt den kühnſten Phantaſiebildern hin und<lb/>
male dir Vorgänge als möglich aus, wie ſie bei der heute ſo<lb/>
bewährten künſtlichen Fiſchzucht angewandt werden. Da be¬<lb/>
mächtigt ſich der Menſch der austretenden Samenzellen (Milch)<lb/>
und Eizellen (Rogen) von zeugungsreifen Fiſchen, füllt beide<lb/>
Produkte in Flaſchen, die ſich mehrere Tage bequem aufbe¬<lb/>
wahren laſſen, und vollzieht ſelber durch Zugießen des einen<lb/>
Stoffs zum andern je nach Bedarf die Zeugung, —ſchließt<lb/>
alſo gewiſſermaßen nachträglich und künſtlich noch den Ring<lb/>
des Liebesindividuums. Denke dir kühnſter Weiſe ſelbſt ſo etwas<lb/>
beim Menſchen möglich und denke dir, daß auch dieſe Produkte<lb/>
noch verſandt werden könnten. Selbſt in dieſer äußerſten<lb/>
Phantaſie-Möglichkeit bleibt die endliche Vermiſchung der Ei¬<lb/>
zelle und Samenzelle einzige, aber abſolute Notwendigkeit.<lb/>
Der Vorgang wäre ſo zu ſagen bis ins Mikroſkopiſche getrieben,<lb/>
hier unter dem Mikroſkop aber vollzöge ſich doch noch die letzte<lb/>
Diſtance-Aufhebung, die Miſchung Leib in Leib.</p><lb/><p>Das menſchliche Liebesindividuum iſt alſo ſchlechterdings<lb/>
ein ganz beſtimmter, mit nichts vergleichbarer Sonderfall inner¬<lb/>
halb der allgemeinen Bildung menſchlicher Überindividuen.<lb/>
Es hat eine einzige Stelle, wo es nicht denkbar ſcheint, daß<lb/>
der Raum von der einen Perſon zur andern im genoſſenſchaft¬<lb/>
lichen Individuum jemals durch künſtliche Werkzeuge überbrückt<lb/>
werden könnte, die den Diſtance-Unterſchied gleichgültig machten.<lb/>
Du kannſt dir denken, daß du bei vervollkommneter Technik<lb/>
mit dem Mars durch Lichtſignale ſprechen könnteſt . . . aber<lb/>
nicht, daß du eine echte Zeugung vollziehen könnteſt, bei der<lb/>
zwiſchen der Samenzelle und der Eizelle auch nur die Diſtance<lb/>
eines winzigen Millimeterbruchteils bliebe. Aus dieſer That¬<lb/>ſache ergeben ſich nun weitere Folgerungen ſofort. Auf das<lb/>
Liebesindividuum findet jenes Robinſon-Ideal von vornherein<lb/>
keine Anwendung. Jener ideale Robinſon auf Salas y Gomez<lb/>
könnte, mit dem geſamten Wiſſen der Menſchheit im Kopf, wie<lb/>
eine Samenzelle die ganze Kultur aus ſich allein wiedererzeugen.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[143/0159]
Gieb dich ſelbſt den kühnſten Phantaſiebildern hin und
male dir Vorgänge als möglich aus, wie ſie bei der heute ſo
bewährten künſtlichen Fiſchzucht angewandt werden. Da be¬
mächtigt ſich der Menſch der austretenden Samenzellen (Milch)
und Eizellen (Rogen) von zeugungsreifen Fiſchen, füllt beide
Produkte in Flaſchen, die ſich mehrere Tage bequem aufbe¬
wahren laſſen, und vollzieht ſelber durch Zugießen des einen
Stoffs zum andern je nach Bedarf die Zeugung, — ſchließt
alſo gewiſſermaßen nachträglich und künſtlich noch den Ring
des Liebesindividuums. Denke dir kühnſter Weiſe ſelbſt ſo etwas
beim Menſchen möglich und denke dir, daß auch dieſe Produkte
noch verſandt werden könnten. Selbſt in dieſer äußerſten
Phantaſie-Möglichkeit bleibt die endliche Vermiſchung der Ei¬
zelle und Samenzelle einzige, aber abſolute Notwendigkeit.
Der Vorgang wäre ſo zu ſagen bis ins Mikroſkopiſche getrieben,
hier unter dem Mikroſkop aber vollzöge ſich doch noch die letzte
Diſtance-Aufhebung, die Miſchung Leib in Leib.
Das menſchliche Liebesindividuum iſt alſo ſchlechterdings
ein ganz beſtimmter, mit nichts vergleichbarer Sonderfall inner¬
halb der allgemeinen Bildung menſchlicher Überindividuen.
Es hat eine einzige Stelle, wo es nicht denkbar ſcheint, daß
der Raum von der einen Perſon zur andern im genoſſenſchaft¬
lichen Individuum jemals durch künſtliche Werkzeuge überbrückt
werden könnte, die den Diſtance-Unterſchied gleichgültig machten.
Du kannſt dir denken, daß du bei vervollkommneter Technik
mit dem Mars durch Lichtſignale ſprechen könnteſt . . . aber
nicht, daß du eine echte Zeugung vollziehen könnteſt, bei der
zwiſchen der Samenzelle und der Eizelle auch nur die Diſtance
eines winzigen Millimeterbruchteils bliebe. Aus dieſer That¬
ſache ergeben ſich nun weitere Folgerungen ſofort. Auf das
Liebesindividuum findet jenes Robinſon-Ideal von vornherein
keine Anwendung. Jener ideale Robinſon auf Salas y Gomez
könnte, mit dem geſamten Wiſſen der Menſchheit im Kopf, wie
eine Samenzelle die ganze Kultur aus ſich allein wiedererzeugen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/159>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.