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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Distance, die den Mischakt eventuell gar nicht als möglich
ahnt, mindestens ihn ignoriert als ihren Gegenpol, küßt
unentwegt.

Ja im erhabensten Moment der Kulturgeschichte, bei der
bewußten Einsetzung der Menschenliebe als des fortan obersten
Gesetzes im werdenden Menschheitsindividuum, wird der Kuß
das Vertragßeichen! In dieser höchsten Neugeburt des alten
Thürstehers am körperlichen Mischakt ist nunmehr völlig evident,
daß er nur noch ein Symbol des höchsten geistigen Einigungs¬
aktes der menschlichen Distanceliebe ist! Wunderbare Pilger¬
fahrt. An diesem Kusse ließe sich die ganze Geschichte der
menschlichen Liebe allein aufreihen, er ist wie ein kolossaler
Knoten darin, der, wenn er allein gelöst würde, alle Fäden
zugleich wiese.

Die Erschwerung der scharfen Trennung bei diesen reinen
Tastdingen wie dem Kusse ist im Grunde aber noch bis tief
in den Mischakt selbst hinein gegeben. Und zwar aus dem
einfachen Grunde (den sich allerdings nicht jeder stets gegen¬
wärtig hält): weil ja dieser Mischakt für die beiden Beteiligten
als bewußte Wesen bis in seinen tiefsten Verlauf hinein immer
noch in gewissem Sinne Tastakt mit Distance ist und erst
jenseits jeglichen Bewußtseins, ja jenseits des Körperzusammen¬
hanges der beiden großen Partner echter Mischakt wird.

Dazu mußt du dir immer wieder folgendes haarscharf klar
machen. Es mischen sich: die Samenzelle und die Eizelle.
Wo? In oder wenigstens mehr oder minder nahe der weib¬
lichen Gebärmutterhöhle. Wie? Die weibliche Eizelle rollt
durch einen der Eileiter entgegen. Und die männlichen
Samentierchen klettern von der Scheide her aufwärts. Den
Vorgang der Begegnung habe ich dir seiner Zeit wohl so
weit anschaulich dargelegt. Er ist selber noch wieder eine
engere Begattung zweier Zellindividuen -- und dieser intimste
Begattungsakt erst führt zur eigentlichen wahren Mischung:
die beiden Zellen "fressen" sich gewissermaßen gegenseitig derart,

Diſtance, die den Miſchakt eventuell gar nicht als möglich
ahnt, mindeſtens ihn ignoriert als ihren Gegenpol, küßt
unentwegt.

Ja im erhabenſten Moment der Kulturgeſchichte, bei der
bewußten Einſetzung der Menſchenliebe als des fortan oberſten
Geſetzes im werdenden Menſchheitsindividuum, wird der Kuß
das Vertragſzeichen! In dieſer höchſten Neugeburt des alten
Thürſtehers am körperlichen Miſchakt iſt nunmehr völlig evident,
daß er nur noch ein Symbol des höchſten geiſtigen Einigungs¬
aktes der menſchlichen Diſtanceliebe iſt! Wunderbare Pilger¬
fahrt. An dieſem Kuſſe ließe ſich die ganze Geſchichte der
menſchlichen Liebe allein aufreihen, er iſt wie ein koloſſaler
Knoten darin, der, wenn er allein gelöſt würde, alle Fäden
zugleich wieſe.

Die Erſchwerung der ſcharfen Trennung bei dieſen reinen
Taſtdingen wie dem Kuſſe iſt im Grunde aber noch bis tief
in den Miſchakt ſelbſt hinein gegeben. Und zwar aus dem
einfachen Grunde (den ſich allerdings nicht jeder ſtets gegen¬
wärtig hält): weil ja dieſer Miſchakt für die beiden Beteiligten
als bewußte Weſen bis in ſeinen tiefſten Verlauf hinein immer
noch in gewiſſem Sinne Taſtakt mit Diſtance iſt und erſt
jenſeits jeglichen Bewußtſeins, ja jenſeits des Körperzuſammen¬
hanges der beiden großen Partner echter Miſchakt wird.

Dazu mußt du dir immer wieder folgendes haarſcharf klar
machen. Es miſchen ſich: die Samenzelle und die Eizelle.
Wo? In oder wenigſtens mehr oder minder nahe der weib¬
lichen Gebärmutterhöhle. Wie? Die weibliche Eizelle rollt
durch einen der Eileiter entgegen. Und die männlichen
Samentierchen klettern von der Scheide her aufwärts. Den
Vorgang der Begegnung habe ich dir ſeiner Zeit wohl ſo
weit anſchaulich dargelegt. Er iſt ſelber noch wieder eine
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[152/0168] Diſtance, die den Miſchakt eventuell gar nicht als möglich ahnt, mindeſtens ihn ignoriert als ihren Gegenpol, küßt unentwegt. Ja im erhabenſten Moment der Kulturgeſchichte, bei der bewußten Einſetzung der Menſchenliebe als des fortan oberſten Geſetzes im werdenden Menſchheitsindividuum, wird der Kuß das Vertragſzeichen! In dieſer höchſten Neugeburt des alten Thürſtehers am körperlichen Miſchakt iſt nunmehr völlig evident, daß er nur noch ein Symbol des höchſten geiſtigen Einigungs¬ aktes der menſchlichen Diſtanceliebe iſt! Wunderbare Pilger¬ fahrt. An dieſem Kuſſe ließe ſich die ganze Geſchichte der menſchlichen Liebe allein aufreihen, er iſt wie ein koloſſaler Knoten darin, der, wenn er allein gelöſt würde, alle Fäden zugleich wieſe. Die Erſchwerung der ſcharfen Trennung bei dieſen reinen Taſtdingen wie dem Kuſſe iſt im Grunde aber noch bis tief in den Miſchakt ſelbſt hinein gegeben. Und zwar aus dem einfachen Grunde (den ſich allerdings nicht jeder ſtets gegen¬ wärtig hält): weil ja dieſer Miſchakt für die beiden Beteiligten als bewußte Weſen bis in ſeinen tiefſten Verlauf hinein immer noch in gewiſſem Sinne Taſtakt mit Diſtance iſt und erſt jenſeits jeglichen Bewußtſeins, ja jenſeits des Körperzuſammen¬ hanges der beiden großen Partner echter Miſchakt wird. Dazu mußt du dir immer wieder folgendes haarſcharf klar machen. Es miſchen ſich: die Samenzelle und die Eizelle. Wo? In oder wenigſtens mehr oder minder nahe der weib¬ lichen Gebärmutterhöhle. Wie? Die weibliche Eizelle rollt durch einen der Eileiter entgegen. Und die männlichen Samentierchen klettern von der Scheide her aufwärts. Den Vorgang der Begegnung habe ich dir ſeiner Zeit wohl ſo weit anſchaulich dargelegt. Er iſt ſelber noch wieder eine engere Begattung zweier Zellindividuen — und dieſer intimſte Begattungsakt erſt führt zur eigentlichen wahren Miſchung: die beiden Zellen „freſſen“ ſich gewiſſermaßen gegenſeitig derart,

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/168>, abgerufen am 22.11.2024.