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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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gleichzeitig die Bewegungsorgane, Flossen, Füße, Flügel, Hände,
das Einzelindividuum, die "Person", mehr und mehr vom
"Haften an der Scholle" befreiten und wirklich auf Distancen
einschulten. Nun zu allem das rapide Wachsen des Überlegens,
des Denkens, des Schließens im Gehirn: die Schallwellen
werden zur Verständigungssprache benutzt, die Hand formt
Werkzeuge ... aus dem Nebel taucht gerade auf diesem Wege
das Tier der Tiere: der Mensch. Das äußerste, höchste
Distancewesen der uns bekannten Welt ist ausgesucht dieser
Mensch. Denke an sein Auge, das, im Werkzeug zum Fernrohr
vervollkommnet, die Monde des Jupiter zählt, im Spektroskop
die Chemie von Fixsternen analysiert, die hundert Billionen
Meilen von uns entfernt sind, und den Durchmesser unserer
Erdbahn um die Sonne, vierzig Millionen Meilen, als Basis
eines Dreiecks benutzt, um die Parallaxen und damit die
Entfernungen solcher Billionenmeilensterne zu errechnen.

Du siehst aber in derselben Entwickelungsbahn noch anderes
hervortreten. Diese Tiere, die Zellstaaten geworden sind und alle
Sorten von Distancegaben räumlich entwickelt haben, legen sich
auch mehr und mehr aufs Zeitliche. Das Erinnerungsvermögen
wächst, und zugleich der Zukunftsblick. Alte Traditionen
geben einen geheimnisvollen Zusammenschluß. Die Generationen
kommen sich geistig immer näher. Die nächste wird schon ge¬
schaut, die letztvergangene noch erinnert. Jene höheren sozialen
Zusammenschlüsse, die über die Person hinausgehen, dehnen sich
nicht bloß räumlich, sondern auch zeitlich aus. Der Mensch
endlich hat eine Geschichte, die über Jahrmillionen reicht, aber
er denkt zugleich Kinder und Enkel greifbar in eben solche
Millionen hinein.

Du begreifst: das erst ist der goldene Boden, auf dem
die wahre Distance- und Dauerliebe allmählich blühen konnten.
Blühen Hand in Hand mit dieser ganzen ansteigenden Ent¬
wickelungslinie der höheren Tierwelt, -- als eine parallele
Entwickelung in der Liebe!

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gleichzeitig die Bewegungsorgane, Floſſen, Füße, Flügel, Hände,
das Einzelindividuum, die „Perſon“, mehr und mehr vom
„Haften an der Scholle“ befreiten und wirklich auf Diſtancen
einſchulten. Nun zu allem das rapide Wachſen des Überlegens,
des Denkens, des Schließens im Gehirn: die Schallwellen
werden zur Verſtändigungsſprache benutzt, die Hand formt
Werkzeuge ... aus dem Nebel taucht gerade auf dieſem Wege
das Tier der Tiere: der Menſch. Das äußerſte, höchſte
Diſtanceweſen der uns bekannten Welt iſt ausgeſucht dieſer
Menſch. Denke an ſein Auge, das, im Werkzeug zum Fernrohr
vervollkommnet, die Monde des Jupiter zählt, im Spektroſkop
die Chemie von Fixſternen analyſiert, die hundert Billionen
Meilen von uns entfernt ſind, und den Durchmeſſer unſerer
Erdbahn um die Sonne, vierzig Millionen Meilen, als Baſis
eines Dreiecks benutzt, um die Parallaxen und damit die
Entfernungen ſolcher Billionenmeilenſterne zu errechnen.

Du ſiehſt aber in derſelben Entwickelungsbahn noch anderes
hervortreten. Dieſe Tiere, die Zellſtaaten geworden ſind und alle
Sorten von Diſtancegaben räumlich entwickelt haben, legen ſich
auch mehr und mehr aufs Zeitliche. Das Erinnerungsvermögen
wächſt, und zugleich der Zukunftsblick. Alte Traditionen
geben einen geheimnisvollen Zuſammenſchluß. Die Generationen
kommen ſich geiſtig immer näher. Die nächſte wird ſchon ge¬
ſchaut, die letztvergangene noch erinnert. Jene höheren ſozialen
Zuſammenſchlüſſe, die über die Perſon hinausgehen, dehnen ſich
nicht bloß räumlich, ſondern auch zeitlich aus. Der Menſch
endlich hat eine Geſchichte, die über Jahrmillionen reicht, aber
er denkt zugleich Kinder und Enkel greifbar in eben ſolche
Millionen hinein.

Du begreifſt: das erſt iſt der goldene Boden, auf dem
die wahre Diſtance- und Dauerliebe allmählich blühen konnten.
Blühen Hand in Hand mit dieſer ganzen anſteigenden Ent¬
wickelungslinie der höheren Tierwelt, — als eine parallele
Entwickelung in der Liebe!

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[163/0179] gleichzeitig die Bewegungsorgane, Floſſen, Füße, Flügel, Hände, das Einzelindividuum, die „Perſon“, mehr und mehr vom „Haften an der Scholle“ befreiten und wirklich auf Diſtancen einſchulten. Nun zu allem das rapide Wachſen des Überlegens, des Denkens, des Schließens im Gehirn: die Schallwellen werden zur Verſtändigungsſprache benutzt, die Hand formt Werkzeuge ... aus dem Nebel taucht gerade auf dieſem Wege das Tier der Tiere: der Menſch. Das äußerſte, höchſte Diſtanceweſen der uns bekannten Welt iſt ausgeſucht dieſer Menſch. Denke an ſein Auge, das, im Werkzeug zum Fernrohr vervollkommnet, die Monde des Jupiter zählt, im Spektroſkop die Chemie von Fixſternen analyſiert, die hundert Billionen Meilen von uns entfernt ſind, und den Durchmeſſer unſerer Erdbahn um die Sonne, vierzig Millionen Meilen, als Baſis eines Dreiecks benutzt, um die Parallaxen und damit die Entfernungen ſolcher Billionenmeilenſterne zu errechnen. Du ſiehſt aber in derſelben Entwickelungsbahn noch anderes hervortreten. Dieſe Tiere, die Zellſtaaten geworden ſind und alle Sorten von Diſtancegaben räumlich entwickelt haben, legen ſich auch mehr und mehr aufs Zeitliche. Das Erinnerungsvermögen wächſt, und zugleich der Zukunftsblick. Alte Traditionen geben einen geheimnisvollen Zuſammenſchluß. Die Generationen kommen ſich geiſtig immer näher. Die nächſte wird ſchon ge¬ ſchaut, die letztvergangene noch erinnert. Jene höheren ſozialen Zuſammenſchlüſſe, die über die Perſon hinausgehen, dehnen ſich nicht bloß räumlich, ſondern auch zeitlich aus. Der Menſch endlich hat eine Geſchichte, die über Jahrmillionen reicht, aber er denkt zugleich Kinder und Enkel greifbar in eben ſolche Millionen hinein. Du begreifſt: das erſt iſt der goldene Boden, auf dem die wahre Diſtance- und Dauerliebe allmählich blühen konnten. Blühen Hand in Hand mit dieſer ganzen anſteigenden Ent¬ wickelungslinie der höheren Tierwelt, — als eine parallele Entwickelung in der Liebe! 11*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/179>, abgerufen am 22.11.2024.